Ein Tag beim FC Schalke 04, dem nächsten Gegner des HSV: Wie Trainer Felix Magath mit den hohen Erwartungen in Gelsenkirchen umgeht.

Gelsenkirchen. Darüber muss jetzt geredet werden. Benedikt Höwedes hat der Lokalpresse ein Interview gegeben. Der U-21-Europameister sprach dabei ein Wort aufs Diktiergerät, das in Schalke derzeit auf dem Index steht: Meisterschaft. Felix Magath ist nicht amüsiert. Der Trainer liest alles, was die Geschäftsstelle ihm an Zeitungsberichten kopiert. Sie sind in einem blauen Ordner chronologisch abgeheftet. Magath versammelt seine "Heimchen", wie er seine Spieler schon mal liebevoll nennt, beim Nachmittagstraining nach dem Aufwärmen im Mittelkreis des Parkstadions. Das ist nach dem Abriss von drei der vier Tribünen eine Ruine. Der Rasen wird weiter gepflegt.

Elf Minuten dauert Magaths Ansprache, und weil Höwedes während dieser Zeit mehrmals nickt, scheint er die Botschaft verstanden zu haben. "Es ist völlig richtig, sich hohe Ziele zu setzen", klärt Magath seine Mannschaft auf, "sie müssen nur realistisch sein, sonst droht man an ihnen zu zerbrechen. Und dann schafft man es nicht einmal, den normalen Erwartungen zu entsprechen. Die Meisterschaft ist in dieser Saison für uns kein realistisches Ziel. Wir sind noch keine Spitzenmannschaft. Wir stehen erst am Anfang eines langen Weges."

Marcelo Bordon, der ehemalige Kapitän, nimmt Höwedes in den Arm. Später sagt der 33 Jahre alte Brasilianer: "Magath hat recht. Wir sind zwar Tabellendritter, wir spielen aber nicht wie ein Champions-League-Kandidat. Besonders im Spielaufbau machen wir zu viele leichte Fehler, verlieren in der Vorwärtsbewegung noch zu oft den Ball." Allein auf die Abwehr sei Verlass. Bordon ist der Abwehrchef. Als durchsickert, dass Magath im Sommer neuer Trainer beim FC Schalke wird, hat er seinen Vertrag verlängert. Was er an Magath schätzt? Bordon: "Er hat ein Ziel!" Das Ausrufezeichen ist deutlich zu hören. Bordon lässt diesen Satz wirken. Dann schiebt er seine Erklärung nach: "Magath weiß, was wir können, und was nicht. Ich kenne ihn aus meiner Stuttgarter Zeit. Seitdem ist er noch besser geworden." Drei Meisterschaften und zwei DFB-Pokale hat der Trainer in der Zwischenzeit gewonnen.

Anspruch und Wirklichkeit, diese Pole sind das Spannungsfeld, in dem sich der FC Schalke 04 seit Jahrzehnten bewegt. Es droht den Verein immer mal wieder zu zerreißen. Jetzt ist erneut solch ein Zeitpunkt gekommen. Am 18. Mai 1958 gewinnt der Klub zuletzt die deutsche Meisterschaft, 3:0 im Endspiel in Hannover gegen den HSV, den Gegner an diesem Sonntag. Die Hamburger sind damals chancenlos. Den Triumph zu wiederholen, haben sich in den vergangenen 51 Jahren viele Vorstände auf die königsblaue Fahne geschrieben. Die Bilanz der Bemühungen beschäftigt nun die Deutsche Fußball Liga (DFL). 136,5 Millionen Euro Verbindlichkeiten hatte Schalkes mächtiger Aufsichtsratschef Clemens Tönnies jüngst eingeräumt. Doch die sind nicht das Problem. Kreditaufnahmen gehören zum Geschäftsleben. Schulden, zum Teil auch hohe, haben bis auf Bayern München alle Bundesligaklubs. In Gelsenkirchen jedoch mangelt es Liquidität, 20, oder doch 30 Millionen Euro fehlen bis zum Ende der Saison. Diese Zahlen allerdings will niemand bestätigen. Sie sind existenzgefährdend. Wie Schalke die Finanzlücke schließen will, muss der Klub der DFL bis zum 31. Oktober erklären. Finanzvorstand Peter Peters (47) erarbeitet Tag und Nacht Vorschläge. "Wir kriegen das hin, ohne dass wir im Winter Spieler verkaufen müssen", sagt Vorstandskollege Magath. Das heiße nicht, dass Schalke keine Spieler verkaufen werde. "Wenn wir ein marktgerechtes Angebot erhalten und der Spieler sich einen Wechsel vorstellen kann, schließe ich das nicht aus." Den Brasilianer Rafinha wollten die Schalker schon Ende August an den FC Bayern abgeben. Der Deal scheiterte im letzten Moment, als der Niederländer Arjen Robben in München zusagte.

Jürgen Ehle ist Schalke-Fan, "seit meiner Geburt, ich hatte keine andere Chance". Heute arbeitet der pensionierte Polizist für einen Wachdienst. Seine knallrote Windjacke mit der Aufschrift seiner Firma ist im weiten Rund der einzige Farbfleck an diesem tristen Herbsttag. Der 62-Jährige sorgt dafür, dass die Kiebitze hinter den Absperrungen bleiben. Dafür genügt sein Erscheinen. Man kennt sich und respektiert sich. Ehle hat viele Schalker Trainer kommen und gehen sehen. Von Magath und seinem Team ist er überzeugt: "Da ist Zug drin. Das sagen alle. Das hat alles Sinn und Verstand. Jetzt wird hier richtig malocht. Endlich." Ehle gefällt, wie sich plötzlich die Jungen in den Vordergrund spielen, Leute wie Lukas Schmitz (19) und Christoph Moritz (21), die auf Schalke vorher keiner kannte. "Auf die hätten wir viel früher setzen sollen als für teures Geld irgendwelche angeblichen Stars von weit, weit her zu holen, von denen die meisten nichts taugten. Dann hätten wir die ganzen Sorgen nicht." Was er über die Finanzprobleme weiß? "Nichts Genaues. Ich will auch nichts wissen. Das ist alles schlimm genug. Auf Schalke muss es weitergehen. Das wäre sonst ein Drama für die ganze Stadt." Wie hat es zu diesen Finanzproblemen kommen können? Ehle: "Wenn Sie mir 100 Euro geben, komme ich damit eine ganze Woche lang aus, andere nur einen Tag." Und Schalke? "Da war das Geld in der Vergangenheit schon nach wenigen Stunden weg."

Wo ein Großteil der Millionen geblieben ist, kann jeder sehen. Schalke hat es sich fein gemacht. Veltins-Arena, Trainingsgelände und Geschäftsstelle bilden einen Funktionskomplex, auf den viele Vereine stolz wären. Die Schalker sind es. Rund 200 Millionen Euro hat allein das neue Stadion gekostet. 2001 wurde es eingeweiht. Die Hälfte der Summe hat der Klub in kurzer Zeit zurückgezahlt. Die Modalitäten des Kredits sollen demnächst neu verhandelt werden. Die hohen Tilgungsraten sind nicht mehr zu leisten.

Dass heute alle Welt weiß, wie es um Schalke steht, ist eines der Phänomene dieses Klubs. Geredet wird in allen Bundesligaklubs viel, beim FC Schalke besonders viel. Manche Aufsichtsräte in Gelsenkirchen definieren ihre Wichtigkeit über ihre Geschwätzigkeit. Deshalb ist es schwer auszumachen, wer für die aktuelle Finanzkrise zur Rechenschaft zu ziehen sein wird. Als es bei S04 jahrelang gut lief, wollten es alle gewesen sein, heute, nach Platz acht in der vergangenen Saison, niemand mehr. "Die Verantwortlichkeiten waren nie klar definiert. Der Verein hatte keine Struktur. Das ändern wir gerade", sagt Magath. Präsident Josef Schnusenberg, der das Finanzgeflecht webte, in dem sich der Klub verhedderte, wurde inzwischen entmachtet.

Die jüngsten Interna über den Zustand des Vereins, vermuten viele auf Schalke, habe der US-Banker Stephen L. Schechter gestreut. Der hat dem Verein vor sechs Jahren eine 75-Millionen-Euro-Anleihe vermittelt, für die Schalke bis maximal ins Jahr 2025 einen Teil seiner Zuschauereinnahmen verpfändete. Kürzlich bot Schechter an, dem Verein bei der Umschuldung seiner Kredite zu helfen. 500 000 Euro will Schechter dafür pro Jahr kassieren. Schalke lehnt ab.

Felix Magath ist nicht nur Trainer, Manager und Vorstandsmitglied auf Schalke, sondern auch für Kommunikation und seit neuestem für Marketing zuständig. "Vielleicht sollten wir ein Schalker Finanzpuzzle auf den Markt bringen. Das ließe sich bestimmt gut verkaufen", scherzt Magath. Er neigt zum Zynismus. Belastet ihn die Situation? "Nein", sagt Magath, "ich habe ja keine Schuld an der Lage. Dadurch kann ich mit den Problemen besser umgehen. Ich muss mich für nichts rechtfertigen, ich kann in Lösungen denken. Und dass es bisher sportlich gut läuft, macht vieles für mich einfacher." Seine Meistertitel haben seine Autorität bei den Spielern gesteigert. Hatten früher viele Angst vor ihm und seinen konsequenten Methoden, sind die meisten heute stolz, unter ihm trainieren zu können. Magath glaubt daher an den Erfolg seiner Mission. "Ich spüre die Rückendeckung, hier etwas aufbauen zu können." Kurzfristig auf Erfolg zu setzen, sei ein Vabanque-Spiel. Das sei auf Schalke zuletzt schiefgegangen. Plane man in größeren Zeiträumen, "habe man weit größere Gewissheit, dass es klappt".

Nach dem Training schreibt Benedikt Höwedes Autogramme für die Fans. Was Schalke zur Spitzenmannschaft fehle, will jemand wissen. "Wir müssen uns auch noch konditionell verbessern", sagt Höwedes. Magath hört es. Und grinst. Schalke beginnt das System Magath zu verstehen.