Hamburg. Eine schwere Skoliose, Asthma und Arthrose halten Martin Lieb nicht vom Extrem-Triathlon in Hamburg ab. Wie ihm Sport neuen Mut gab.

Die Erinnerung an den Arztbesuch verblasst nicht, auch wenn sie bereits mehr als 40 Jahre alt ist. „Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als der Orthopäde die Röntgenaufnahme an die Wand hängen wollte“, sagt Martin Lieb. „Der Arzt wusste erst gar nicht, wo oben und unten ist.“

Die Aufnahme seiner Wirbelsäule zeigte eine seitliche Krümmung von 79 Grad, eine sogenannte schwere Skoliose. Plötzlich ergab auch das Bronchialasthma Sinn, das sich entwickelt hatte, weil die Wirbelsäule jahrelang Lunge und Herz eingedrückt hatte.

Ironman Hamburg: Lieb startet mit Titanstange im Rücken

„Es war klar, dass die Wirbelsäule schnell operativ gerichtet werden musste“, sagt Lieb. Zwei Monate dauerte es bis zum Eingriff, dann wurde sein Rücken von Nacken bis Steißbein mittig aufgeschnitten, die krumme Wirbelsäule mit einer 40 Zentimeter langen Titanstange fixiert, die Krümmung auf 29 Grad reduziert.

Noch heute ist die lange Narbe an seinem Rücken sichtbar. Für den Ironman, den der mittlerweile 57-Jährige am Sonntag in Hamburg erstmals beenden will, wäre der Mann mit dem Metallrücken der perfekte Marketinggag. Ein Eisenmann im wahrsten Sinne des Wortes, der das strapaziöse Rennen (3,86 km Schwimmen, 180,2 km Radfahren und ein Marathon über 42,195 km) bestreitet.

Martin Liebs Lebensgeschichte taugt allerdings nicht, um als bloßer Werbespaß herzuhalten. „Für mich war diese Diagnose der absolute Killer. Ich hatte ganz andere Pläne, wollte Sport studieren, die Welt kennenlernen. Ich liebte die Bewegung – und die wurde mir geraubt“, sagt der gebürtige Bückeburger, der seit 1995 in Hamburg wohnt, während seine Stimme ins Stocken gerät.

Lieb führte normales Teenagerleben

In Südniedersachsen, direkt an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen, liegt das 19.000-Einwohner-Städtchen, in dem Lieb bis zur neunten Klasse ein normales Teenagerleben führte. Er spielte Fußball, Handball und Tischtennis, versuchte sich in der Leichtathletik. „Ich war ein Bewegungstyp“, sagt er.

Zwar hatte ein Orthopäde bereits im Alter von sieben Jahren entdeckt, dass seine Wirbelsäule nicht so gerade war, wie sie hätte sein sollen. Auf Anraten des Arztes versuchten es seine Eltern für ein paar Tage mit einem Gipsbett, das den Rücken des Siebenjährigen im Schlaf stabilisieren sollte. „Ich habe nur noch geschrien, weshalb meine Eltern das Gipsbett dann weggelassen haben“, erinnert sich Lieb. Schmerzen habe er in den kommenden Jahren nicht gehabt, nur das Asthma, das zeitweise auf einer Kur behandelt wurde.

Die Röntgenaufnahme zeigt die Titanstange in Martin Liebs Rücken.
Die Röntgenaufnahme zeigt die Titanstange in Martin Liebs Rücken. © Privat

Wieso sich die Skoliose in dieser besonders schweren Form bei ihm entwickelt hat, ist bis heute unklar. Lieb vermutet einen Vitamin-D-Mangel, der zu einer Knochenerweichung führte. Fest steht nur, dass ihm der sogenannte Harrington-Stab im Alter von 15 Jahren eingesetzt werden musste, damit Herz und Lunge nicht weiter eingedrückt werden. Mithilfe von Beckenknochenkeilen wurde seine Wirbelsäule darüber hinaus verstärkt.

Gips-Korsett nach der Operation

Über vier Wochen nach der Operation konnte Lieb nur im Bett liegen, sich von Mitschülern die Hausaufgaben ins Krankenhaus liefern lassen. „Ich hatte höllische Schmerzen“, sagt Lieb, der im ersten halben Jahr nach dem Eingriff ein starres Gipskorsett um seinen Oberkörper tragen musste. In der Schule rempelten ihn seine Mitschüler in den Pausen manchmal unabsichtlich an. „Ich habe mich gefühlt wie eine Litfaßsäule“, sagt Lieb, der heute über diese Situationen lachen kann.

Damals war ihm nicht zum Lachen, sondern zum Weinen zumute. Seine Freunde trugen die neuesten Levis-Jeans, er eine weite Cord- oder Frotteehose, weil der Gips im Weg war. Für einen Teenager in der Pubertät schwer zu ertragen. „Ich musste viele Schmerzmittel nehmen, wodurch mein Gesicht aufgeblasen und gerötet war. Die Situation war vollkommen beschissen, hat geschmerzt und mich betäubt“, sagt Lieb. „Dann bekam ich von einem Tag auf den anderen auch noch einen Schwerbehindertenausweis.“

Er war jetzt offiziell behindert, das stand dort schwarz auf weiß. Den Berufswunsch des Sportlehrers sollte er vergessen, riet ihm sein Orthopäde. Stattdessen solle er doch technischer Zeichner werden, sagte der Arzt. Bloß nichts mit Bewegung. „Ich hatte sofort den reflexhaften Protest, dass ich das nicht machen werde“, erinnert sich Lieb. Diese Reaktion, das von anderen Menschen vermeintlich bestimmte Schicksal nicht zu akzeptieren, sondern es selbst zu bestimmen, sollte ihn später durch sein Leben tragen.

Flucht in eine Parallelwelt

Zunächst aber flüchtete sich der Teenager in eine Parallelwelt. Schon vor der Operation hatte er sich für die Schauspielerei begeistern können, nun war sie sein Ausweg aus der nicht zu ertragenden Realität. „Die Realität war für mich zu schmerzhaft. Ich war frustriert, hatte wenig Selbstwertgefühl“, sagt Lieb. Selbst nachdem der Gips ab war, musste er noch für ein weiteres Jahr ein Plastikkorsett tragen, das er immerhin selbstständig öffnen und schließen konnte.

Im Schülertheater bekam Lieb wegen seiner eingeschränkten Beweglichkeit nur eine Rolle als Pilz. „Die Situation war grotesk“, sagt er und lacht. „Trotzdem hatte ich einen Riesenspaß, diesen Pilz zu spielen, weil ich so die Realität nicht ertragen musste.“ Parallel zu den Theaterauftritten begann er, als Clown zu arbeiten, ließ sich für Kindergeburtstage und Familienfeiern buchen. Die Bückeburger Lokalzeitung berichtete, schnell war er in dem Städtchen bekannt als der Clown, der irgendwie etwas anders ist. „Es gehörte bei meiner Rolle dazu, ein bisschen steif zu sein“, sagt Lieb.

Nach dem Abitur zog er nach Berlin, studierte Schauspiel und Musical, spielte gemeinsam mit seiner ersten Frau auf Kabarett- und anderen Theaterbühnen sowie beim Musical West Side Story. Das Leben als Schauspieler war jedoch nicht einfach, das Paar hangelte sich von Job zu Job, finanziell lief es nicht mehr. „Das war meine größte Krise, beruflich und privat konnte es so nicht weitergehen“, erinnert sich Lieb, der einen Schlussstrich zog und sich von seiner Frau trennte. Ein Neuanfang in Hamburg sollte her, die Flucht in die Parallelwelt war nicht das, was ihn erfüllte.

Wüstenwanderung brachte die Wende

In einem Abendblatt-Bericht las Lieb von einem Menschen, der Wüstenwanderungen anbot. „Das hat mich total angefixt“, erzählt er. Lieb nahm Kontakt auf, reiste ins südliche Tunesien, wo er mit einer Gruppe an einer zehntägigen Wüstenwanderung teilnahm. „Dort habe ich gelernt, dass körperliche Herausforderung ein guter Weg ist, um zu mir selbst zu gelangen“, sagt er.

Der Wahl-Eimsbütteler begann mit Ausdauersport, zunächst mit Marathonläufen. „Ich habe gemerkt, dass Sport und Bewegung mein Lebenselixier sind“, sagt er. Auch beruflich gab es eine neue Perspektive, als einer der ersten offiziell zertifizierten Personal Trainer eröffnete Lieb ein eigenes Studio in Hamburg.

Bevor seine Mutter im Jahr 2010 an Lymphknotenkrebs verstarb, verbrachte er viel Zeit bei ihr im Krankenhaus. „Wir haben zum Schluss, als sie noch konnte, sehr viel geredet. Ich wusste, dass sie immer sehr stolz auf mich war, wenn ich etwas Besonderes gemacht hatte. Kurz vor ihrem Tod habe ich ihr dann versprochen, dass ich einen Ironman in Angriff nehmen werde“, sagt Lieb.

Er hat Probleme beim Schwimmen

Der gleiche Mensch, der im Theater einst einen Pilz spielen musste, wollte nun die größtmögliche sportliche Herausforderung angehen. Die Aufgabe suchte sich Lieb, bei dem sich zwischenzeitlich auch noch Kniearthrose entwickelt hatte, ganz bewusst aus. „Durch die Wirbelsäulenfixierung kann ich nicht gut schwimmen“, sagt er.

Insbesondere seinen rechten Arm kann er wegen der Titanstange nur eingeschränkt bewegen. „In der Anfangsphase meines Trainings war ich sehr verzweifelt. Ich hatte Schmerzen im Rücken, Schmerzen im Knie und das Schwimmen hat überhaupt nicht funktioniert“, sagt Lieb, der anfangs nur Brustschwimmen konnte. „Ich habe mich gefragt, wie das alles funktionieren soll.“

Auch am Sonntag in Hamburg wird er für die Schwimmstrecke wieder mindestens eineinhalb Stunden benötigen, weil die eingeschränkte Beweglichkeit ihn deutlich schlechter vorankommen lässt. „Meine Schwimmlage ist miserabel“, sagt Lieb. „Ab der Mitte des Schwimmens bin ich nur noch am Frieren. Beim Wechsel trinke ich dann erstmal einen Tee.“

Keine Probleme beim Wechsel

Der größte Vorteil: Er ist fast immer der letzte Athlet in der Wechselzone, hektisches Gedränge und ein Griff zum falschen Fahrrad bleiben ihm erspart. „Früher hatte ich die Sorge, mein Rad beim Wechsel nicht zu finden. Heute weiß ich, dass ich einfach das letzte Rad nehmen kann, das noch da ist“, sagt Lieb und lacht.

Vier Ironman-Starts hat er bereits hinter sich. Weil aber wahlweise Körper oder Material nicht mitmachten, kam er nie in der geforderten Zeit ins Ziel. Insbesondere der erste Ironman-Versuch 2010 in Regensburg veränderte seine Haltung zum Sport. Angesichts der Titanstange muss Lieb kreativer trainieren als andere Athleten, manche Ausdauerübungen zur Schonung seines Rückens beispielsweise auf einem Minitrampolin absolvieren. Lieb macht regelmäßig Koordinationstraining und Beweglichkeitsübungen, setzt auf Yoga und Meditation, um sich in den richtigen Bewusstseinszustand zu versetzen.

Noch heute ist die Narbe auf Martin Liebs Rücken zu sehen.
Noch heute ist die Narbe auf Martin Liebs Rücken zu sehen. © Privat

Der 57-Jährige lebt wie ein Profisportler, hat unter anderem seine Ernährung radikal umgestellt, setzt auf entzündungshemmende Lebensmittel wie Paprika und Brokkoli. Um die niedrigen Wassertemperaturen über eineinhalb Stunden auszuhalten – die Alster misst momentan rund 17 Grad Celsius – hat er sich angewöhnt, stets kalt zu duschen, um seine Körperkerntemperatur zu senken.

Dehnübungen während des Rennens

Während der 180 Kilometer auf dem Rad und dem anschließenden Marathon hält Lieb zudem unterwegs an, um Dehn- und Yogaübungen zu machen. „Der Sonnengruß und der herabschauende Hund gehören für mich beim Ironman dazu“, sagt er und lacht.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Ironman-Startern hat Lieb auch nur ein herkömmliches Rennrad und kein spezielles Triathlon-Rad, mit dem er eine bessere Zeitfahr-Körperhaltung einnehmen könnte. Eine Beugung seines Rückens ist angesichts der Titanstange schlicht nicht möglich. „Optimal wäre für mich eigentlich ein Hollandrad. Das ist aber leider verboten“, sagt er grinsend.

Eine genaue Zeit hat er sich nicht zum Ziel gesetzt. „Ich würde nur gerne zur Tagesschau fertig sein“, sagt Lieb. Bei einem Start gegen 6.30 Uhr wären das rund 13 Stunden, die er für den Ironman benötigen würde. „Wenn ich in meiner Altersgruppe ganz vorne landen wollen würde, müsste ich pro Woche 150 Kilometer laufen, 250 Kilometer Radfahren und mich täglich im Schwimmbad aufhalten. Das ist für mich nicht gesund.“

2035 will Lieb bei der Ironman-WM auf Hawaii starten

Warum aber muss es überhaupt der Ironman sein? Warum muss er es immer zum Äußersten treiben? „Ein normaler Triathlon ist eine tolle Möglichkeit, um mich sportlich zu fordern. Der Ironman hingegen hat meine Lebenseinstellung völlig verändert“, erklärt Lieb. „Wenn man so etwas schafft, hat man die Vorstellung, alles im Leben schaffen zu können.“

Es ist ein besonderes Selbstbewusstsein, das er bei jedem Satz versprüht.. „Ich will anderen Menschen Mut machen, auch mit Krankheiten und in ihrer zweiten Lebenshälfte aktiv zu bleiben“, sagt Lieb, der sein Dasein als Personal Trainer im Jahr 2014 um mentales Coaching erweiterte, um seine Erfahrungen an andere Menschen weiterzugeben.

Mindestens bis zum Jahr 2035 möchte Martin Lieb noch bei Ironman-Rennen starten. Dann könnte er erstmals in der Altersgruppe der 70- bis 74-Jährigen starten, sich so in dieser Altersklasse für die Weltmeisterschaft auf Hawaii qualifizieren. „Hawaii 2035 ist mein Lebensziel“, sagt Lieb, ehe er ohne Zögern anfügt: „Und das werde ich schaffen.“

Sein damaliger Orthopäde dürfte das wohl nicht mehr erleben.