Erfurt. Während Olympiasieger Christoph für sein Scheitern eine interessante Erklärung hat, ist Meister Robert schon wieder im Attacke-Modus.

Christoph Harting nahm sich alle Zeit der Welt. Hier ein Autogramm, da noch ein Selfie mit strahlendem Lächeln für seine Fans – man hätte meinen können, der Diskus-Olympiasieger von Rio 2016 sei dabei, seine Freude und seinen Stolz mit allen anderen zu teilen, weil er soeben einen glänzenden Wettkampf hingelegt hatte.

Das Gegenteil war der Fall. Der 27-Jährige war bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Erfurt mit 62,51 Metern nur Vierter geworden, hatte eine enttäuschende Vorstellung geliefert und die Norm von 65 Metern für die Weltmeisterschaften vom 4. bis 13. August in London klar verpasst.

Irritierend wirkte die Gelassenheit, mit der er alles hinnahm. Den Wettkampf („Ich habe alles gegeben. Es hat nicht gereicht. Shit happens“) ebenso wie die Möglichkeit, eventuell vom Weltverband IAAF nachnominiert zu werden („Ich will keine Extrawurst“). Als Erklärung für eine Saison, die eigentlich gar keine war, zog Harting heran: seinen Olympiasieg. „Da kannst du die Uhr nach stellen: Jeder, der bei Olympia was gerissen hat, bei dem ist die Luft im Jahr darauf raus“, argumentierte er.

Robert Harting kaum gefordert

Eine interessante Theorie. Es gibt allerdings etliche Gegenbeispiele. Das beste hatte kurz zuvor bei der Siegerehrung auf dem obersten Treppchen gestanden. Robert Harting, sein viereinhalb Jahre älterer, ungleicher Bruder, wurde 2012 in London Olympiasieger. Und 2013 in Moskau Weltmeister. Und 2014 in Zürich Europameister. Wenn bei ihm je die Luft raus war, hat er es sich nicht anmerken lassen. Während der Jüngere von Druckverlust philosophiert, spricht der Ältere von seinen Brennwerten. Er brennt unvermindert. In Erfurt holte er sich, ohne gefordert worden zu sein, seinen zehnten deutschen Meistertitel.

Über seiner nationalen Konkurrenz thront er schon wieder. Obwohl er in Rio einen bitteren Tiefpunkt erlebt hatte, wegen eines Hexenschusses in der Qualifikation ausgeschieden war. Auch danach sah es wegen einer komplizierten Knieoperation nicht goldig aus, was eine erfolgreiche Fortsetzung seiner Karriere anging. Doch nun sagte er lächelnd: „Wenn man Anfang des Jahres Robert-Harting-Aktien gekauft hätte, hätte man jetzt wahrscheinlich 500 oder 600 Prozent Gewinn gemacht.“ Und wenn die deutschen Leichtathleten in London noch eine Medaillenchance im Diskuswerfen haben, dann seinetwegen, des alten Herren des Rings.

Harting, der Ältere, ging sogar schon in einen leisen Attacke-Modus über. „Ich fühle mich noch nicht so wohl, dass ich sagen könnte: Kommt her, ich zeig’s euch!“, sagte er, ergänzte aber fröhlich: „Wenn die Kids nicht wollen, dann mache ich das.“ Eine persönliche Saisonbestleistung, also mehr als 66,30 Meter, sieht er dabei als die eine Voraussetzung an. Dazu hofft er auf Hilfe, eine gewisse Unsicherheit der jungen Konkurrenz. „Ein Daniel Stahl kennt das noch nicht so, als Favorit in einen solchen Wettkampf zu gehen.“

Mit der B-Technik zum zehnten Titel

Die neue Diskus-Generation um den Weltjahresbesten Stahl aus Schweden (71,29 Meter), den Jamaikaner Fedrick Dacres oder den Litauer Andrius Gudzius, die beide schon über 68 Meter geworfen haben, sollte gewarnt sein. Selbst Christoph Harting, der den Erfolg seines Bruders in Erfurt eifrig beklatschte, meinte: „Das ist schon eine geile Comeback-Story. Robert hat so viele Rückschläge gehabt. Aber dem Mann sind immer 67 oder 68 Meter zuzutrauen, egal in welchem Zustand er ist.“

Genau das scheint der springende Punkt zu sein: Wie ist Robert Hartings Zustand? Seit Jahresbeginn arbeitet der 32-Jährige mit seinem neuen Trainer Marko Badura (45) zusammen, der vorher als Wissenschaftler in Leipzig den Diskuswurf erforschte. „Er hat vielleicht nicht die Erfahrung, aber Köpfchen, und das hab’ ich auch“, sagt Harting, „es entwickelt mich weiter, mit einem neuen Trainer zu arbeiten.“

Nur kann er die schnelle Technik, die er von Badura vermittelt bekommt, im Wettkampf noch nicht ganz umsetzen und spricht deshalb von einer B-Variante, fällt oft in die alten Bewegungsmuster zurück. „Drei Wochen muss ich jetzt daran arbeiten. Daraus kann noch eine A-Technik werden“, hofft er. Positiv gestimmt ist Robert Harting in jedem Fall: „Dafür, dass ich im März erst wieder ansatzweise mit Diskus angefangen habe, ist es ganz geil geworden.“

WM-Ort lässt Hartings Brust schwellen

Anders als sein Bruder wirkt Robert Harting immer noch fast unersättlich, trotz seiner vielen Erfolge. Ob er denn dieses letzte Jahr bis zu seinem angekündigten Karriereende bei der EM in Berlin auch genießen werde? Knurrige Antwort: „Genießen ist sehr nah am Entspannen. Das ist nicht immer gut. Ich freue mich auf ein paar Tage harte Arbeit.“

Und auf die WM in London. Er werde sicher nicht mit hängendem Kopf in die Stadt reisen, in der er Olympiasieger wurde. „Da ist einer der schönsten Tage in meinem Leben passiert. Das wird mich noch ein bisschen breitbrüstiger machen“, kündigte er an.

Noch eine Ankündigung gab es, diesmal wieder vom jüngeren Harting, von Christoph. „Ich komme zurück“, versprach er. Immerhin.