London. Erdbeeren, Rasen, Regen, Kleiderordnung, Schlangestehen – das berühmteste Tennisturnier der Welt bleibt unverwechselbar, nur die Anlage wird modernisiert

Zwei Herzinfarkte hat Des Robson überlebt. Weil er erst 48 Jahre alt ist, begann der Computertechniker aus Northumberland, einer Grafschaft an der schottischen Grenze, nach den gesundheitlichen Rückschlägen „all das zu tun, wovon ich immer geträumt hatte“. Und so war er am vergangenen Sonnabend um 1.30 Uhr morgens der Erste, der im Wimbledon Park sein Zelt aufstellte, um die beste Position zu haben, als am frühen Montagmorgen der Kampf um die begehrtesten Eintrittskarten Großbritanniens begann.

Wobei Kampf das falsche Wort ist, denn wenn in England eins funktioniert, dann das geordnete Schlangestehen. Wer in diesen Tagen auf dem Weg zum All England Lawn Tennis Club (AELTC) durch den Park schlendert, wird sofort in den Bann gezogen von der Menge, die sich dort in kleinen Schritten langsam vorwärtsschiebt, gemächlich wie eine Kuhherde beim Almauftrieb. Wahrscheinlich gibt es nichts, was die Faszination Wimbledon besser illustriert als „The Queue“, diese kilometerlange Menschenschlange, die sich jeden Morgen mit nur einem einzigen Ziel bildet: Tickets zu ergattern für den Centre-Court an der Church Road; dort, wo auf dem heiligen Rasen neue Helden geboren werden und andere fallen.

Es ist die wohl beeindruckendste dieser vielen Besonderheiten, die das dritte Grand-Slam-Turnier jeder Tennissaison zu dem machen, was weltweit Millionen Fans und die meisten derjenigen, die dort spielen durften, in ihm sehen: dass jeden Tag Eintrittskarten zurückgehalten werden, um Menschen spontan glücklich zu machen.

Der Preis für Erdbeeren mit Sahne ist seit 2010 stabil

1000 Tickets gibt es für den Centre-Court mit seinen 14.979 Sitzplätzen, weitere 5000 für die Anlage mit ihren insgesamt 40 Rasencourts – 18 für den Spielbetrieb, 22 fürs Training –, die 39.000 Menschen fasst. In jedem Jahr wird die Schlange länger, so dass es tatsächlich Wartende gibt, die abgewiesen werden müssen. Wer sich nach einer Nacht im Zelt oder – entsprechend weiter hinten – morgens spontan anstellt, erhält eine 30-seitige Broschüre, „The Guide for Queueing“, in der die Regeln für den Wettlauf um die Tickets festgelegt sind. Trotz alledem lassen sich täglich viele Tausend Fans darauf ein.

Längst diskutieren englische Medien, wie lang dieses System noch aufrecht erhalten werden könne, ohne dass die Fans, die leer ausgehen, aufgebracht reagieren. „Ich mache mir darüber keine Gedanken. Wir werden es schaffen, die Queue weiter im Griff zu halten“, sagt Richard Lewis, Chief Executive Director des AELTC. 375 Vollmitglieder hat der Club, denen außerhalb der zwei Turnierwochen die Rasenplätze vorbehalten sind. Die Jahresgebühr liegt bei überraschend günstigen 300 Pfund; viel wichtiger ist der Leumund der Mitglieder. Die Warteliste umfasst 1000 Namen, wer aufgenommen werden will, braucht Unterstützungsschreiben von vier Vollmitgliedern. Genau so stellt man sich einen exklusiven britischen Club vor.

Der Spagat zwischen Tradition und Moderne ist für den Gastgeber die größte Herausforderung. Schließlich erwarten die Gäste einerseits das besondere Flair, für das Wimbledon weltweit berühmt ist. Andererseits aber muss man mit der Zeit gehen. „Wimbledon will das wichtigste und beliebteste Tennisturnier der Welt bleiben. Dafür muss die Tradition gewahrt, aber trotzdem mit der Zeit gegangen werden“, sagt Barry Flatman von der renommierten „Sunday Times“. Der 62-Jährige berichtet seit 1980, als der Schwede Björn Borg im Endspiel US-Rüpel John McEnroe bezwang, über das Turnier, und er hat einen Grund dafür ausgemacht, warum der Spagat gelingt: „Der Club hat keine Geldsorgen!“

Wer über die 42 Hektar große Anlage im Südwesten der englischen Hauptstadt flaniert, der spürt, was Flatman meint. Die Plätze mit ihrem auf acht Millimeter getrimmten Gras sind in optimalem Zustand, die Stadien sind gepflegt, das Medienzentrum, in dem 3250 akkreditierte Journalisten arbeiten, entspricht modernsten Standards, das WLAN-Netz funktioniert einwandfrei. Wer die vernachlässigte Anlage am Hamburger Rothenbaum kennt, der fühlt sich in Wimbledon um Lichtjahre voraus.

Und dennoch atmet der Besucher an jeder Ecke die Geschichte eines Turniers, das 1877, damals am alten Standort an der Worple Road, erstmals ausgetragen wurde. Das Museum illustriert die Historie anschaulich. Seit Jahrzehnten sind Pimm’s, dieser klebrig-süße Sommercocktail, der in 0,3-Liter-Bechern für 8,50 Pfund angeboten wird, und kentische Erdbeeren mit Sahne die Verkaufsschlager an den Ständen. 28.000 Kilo der Früchte in 140.000 Portionen werden pro Jahr verkauft, der Preis ist mit 2,50 Pfund seit 2010 stabil. Die rund 6000 Angestellten tragen verschiedene Uniformen in den Clubfarben Dunkelgrün und Lila – und sind in ihrem Auftreten so distinguiert und gleichzeitig bestimmt, wie es dem Klischee des Briten der Oberklasse entspricht.

Dabei ist genau dieses Image etwas, das dem Turnier anhaftet wie lästiges Kaugummi unter der Schuhsohle. „Es gibt genug Leute, die Wimbledon nicht mögen, weil sie es für elitär und ver­snobbt halten“, sagt Barry Flatman. Relikte wie die Royal Box auf dem Centre-Court, in der 74 Sitze für Mitglieder der Königsfamilie und deren Gäste frei gehalten werden, obwohl die Queen Pferdesport vorzieht und erst viermal – zuletzt 2010 – das Tennisturnier beehrte, werden nicht von allen Briten goutiert. „Damit müssen wir leben“, sagt Richard Lewis, „mit gewissen Traditionen werden wir nicht brechen.“ Dazu zählen der spielfreie Mittel-Sonntag und die strikte Kleiderordnung, die den – inklusive Qualifikation – 757 Teilnehmern ausschließlich weiße Outfits vorschreibt.

Sebastian Coe, früherer Weltklasse-Leichtathlet, Präsident des Leichtathletikweltverbandes IAAF und 2012 Chef des Organisationskomitees für die Olympischen Spiele in London, glaubt, dass das Traditionsbewusstsein dem Ort seinen mythischen Charakter verleiht. „Jeder hat uns dafür beneidet, dass wir das olympische Tennisturnier in Wim­bledon austragen konnten“, sagt er. Den wahren Grund für die Popularität sieht der 60-Jährige allerdings in der großen Anteilnahme des Volkes an dem Sportevent, mit der einzig das Pferdehindernisrennen Grand National im April in Aintree nahe Liverpool mithalten könne.

Auch der zweitgrößte Platzsoll bis 2019 überdacht werden

Streifzüge durch die umliegenden Stadtviertel wie das Wimbledon Village oder Southfields unterstreichen Coes Beobachtung. Pubs und Geschäfte sind in den Farben des Clubs geschmückt, überall sind die Auslagen mit Tennisschlägern und -bällen bestückt. Viele Anwohner vermieten während der zwei Wochen Zimmer in ihren Privathäusern an Medienvertreter oder ausländische Fans und nehmen darüber Anteil an dem Turnier. „Für uns ist das eine tolle Zeit, die wir jedes Jahr genießen. Auch wenn man kein ausgewiesener Tennisfan ist, wird man von der Begeisterung um Wimbledon mitgerissen“, sagt Emma Chisholm, die mit Ehemann Andy und drei Töchtern in der Trentham Street lebt und das Gästezimmer unterm Dach für 65 Pfund pro Nacht vermietet. Frühstück und Familienanbindung inklusive – besser kann man dem Geist von Wimbledon nicht näherkommen.

Richard Lewis kennt all diese Geschichten. Sie machen in ihrer Gesamtheit das aus, was den Chief Executive Director und den gesamten AELTC antreibt, um den Status als weltweit bekanntestes und beliebtestes Tennisturnier zu wahren und auszubauen. In diesem Jahr war die prekäre Sicherheitslage in der von Terroranschlägen gepeinigten Stadt die größte Herausforderung, man begegnete ihr mit einer deutlichen Aufstockung der Securitykräfte und der Errichtung von Schutzpollern gegen Attacken mit Fahrzeugen.

Für die nächsten Jahre ist der Ausbau des zweitgrößten Showcourts das vorrangige Projekt, 2019 soll auch er – wie der Centre-Court – mit einem fahrbaren Dach ausgestattet sein. Eine Ausweitung der Anlage ist erst möglich, wenn der angrenzende Golfclub das Gelände, das er bis 2041 vom AELTC gepachtet hat, freigibt. „Wir machen Angebote, aber zur Not warten wir eben bis 2041. Wir haben genug weitere Projekte in Planung, aber darüber reden wir nicht“, sagt Lewis. Sie lassen lieber Taten sprechen im Südwesten von London, damit auch in Zukunft Menschen dort das tun können, wovon sie immer schon geträumt haben.