Sotschi. Ein Punkt gegen Kamerun reicht der Nationalelf für den Einzug ins Halbfinale

Wenn Julian Draxler Fußball spielt, schaut er manchmal ängstlich an den Spielfeldrand. Dort steht der vierte Offizielle. Es kann ja vorkommen, dass dieser Bursche die Frechheit besitzt, eine Tafel mit seiner Rückennummer hochzuhalten. Ausgewechselt zu werden, hasst Draxler. Von daher war das eine feine Sache, dass Joachim Löw kurz zuvor beim 1:1 gegen Chile im zweiten, deutschen Gruppenspiel des Confed Cups dem vierten Offiziellen keine Arbeit machte. Er wechselte überhaupt nicht aus. Und Draxler gefiel das.

Als ein Bundestrainer zuletzt auf sein Recht verzichtete, frische Leute aufs Feld zu schicken, war der heute 23-Jährige nicht einmal zwei Jahre alt. „Ich habe keinen Grund für eine Auswechslung gesehen. Ich hatte das Gefühl, dass wir mehr zulegen können als die Chilenen“, erklärte Löw. Und darin steckt die erste Erkenntnis aus der Partie gegen den Südamerikameister. Die zweite formulierte Draxler: „Der Trainer wollte sehen, dass wir uns da durchbeißen.“ Löws Team mit den jungen Begabten hat Steherqualitäten bewiesen: die Physis und die Mentalität betreffend.

Chile hat den Ruf, zu den unangenehmsten, besten Mannschaften der Welt zu gehören, was bisweilen übertrieben ist. Erstaunlich ist dennoch, dass sich Löws Team der unbestrittenen Wucht von „La Roja“ entgegenstemmen konnte, obwohl sie sich gerade erst findet. „Wir wussten, dass sie uns mit ihrer Mentalität und Kampfkraft überrennen wollen“, sagte Mittelfeldspieler Leon Goretzka. „Dann ist so etwas, was uns passiert ist, natürlich extrem suboptimal“, so der Schalker und meinte das frühe Gegentor nach einem Mustafi-Fehler. Andere Teams seien an solchen Rückschlägen schon zerbrochen. „Aber wir haben bewiesen, dass wir eine gewisse Charakterstärke entwickelt haben. Wir sind zurückgekommen.“ Ein Schritt des Erwachsenwerdens.

Neben Draxler ragt bisher auch Goretzka heraus

Goretzka würde im Moment sehr wahrscheinlich auch zu den Erwachsenen in der A-Elf neben Draxler bei Löw gehören. Nach Russland ist der 57-Jährige aber noch mit einer B-Elf gereist aus Perspektivspielern und Spätberufenen wie Lars Stindl (28), der nun schon sein zweites Turniertor erzielt hat. Die zeitgleiche U21-EM in Polen und vor allem der Wunsch nach Erholung der meisten Weltmeister hat Löw zum Improvisieren gezwungen. Doch nach zwei Partien im Wettbewerb wächst der Eindruck, dass sich aus jener Gelegenheitstruppe eine mit Biss und Titelhunger zu entwickeln beginnt.

Für den Einzug ins Halbfinale benötigt Deutschland im letzten Gruppenspiel am Sonntag gegen Kamerun (17 Uhr/ZDF) ein Remis. Besser wäre ein Sieg gegen den Afrikameister in Sotschi. Denn das würde bedeuteten, dass die DFB-Auswahl nicht wieder nach Kasan reisen müsste, sondern am Schwarzen Meer bleiben könnte. Gesetzt den Fall, dass Chile nicht zeitgleich gegen Aus­tralien gewinnt oder zumindest die aktuell um einen Treffer bessere Tordifferenz gegenüber Löws Elf nicht halten kann. „Wir müssen erst die Batterien aufladen“, sagte Mustafi und versicherte, dass man dann aber alles tun werde, um als Gruppenerster weiterzukommen und in Sotschi zu bleiben. „Das wäre ein Detail, das dazu beitragen kann, besser abzuschneiden.“

Löw wollte in Russland vor allem Erkenntnisse sammeln. Nach zwei Spielen lautet eine davon so: Es hat in der Vergangenheit beim DFB schon A-Mannschaften gegeben, die deutlich weniger talentiert und erfolgshungrig waren als jene B-Elf. Es könnte sein, dass es die beste zweite Mannschaft ist, die Deutschland je hatte.