Kasan. Kimmich und Co. unterscheiden sich stark von vorigen Generationen. Reifeprüfung beim Confed Cup gegen Chile.

Arturo Vidal kochte. Ausgewechselt in der 29. Minute. Was erlauben die sich? Schwitzend in der Kabine sitzend hämmerte der Chilene eine SMS in sein Handy: „Ich verlasse den Club!“ Als Jonas Boldt sie las, war er zufrieden. Arturo Vidal war immer noch der Alte.

Boldt (35) ist heute Manager von Bayer Leverkusen. Er hat Vidal entdeckt. Und wenn man ihn vor dem zweiten Gruppenspiel der deutschen Nationalelf beim Confed Cup gegen Chile in Kasan (20 Uhr/ARD) nach dem 30-Jährigen fragt, erzählt er die Kabinengeschichte vom August 2009. Bayer-Trainer Jupp Heynckes hatte den Mittelfeldspieler aus Sicherheitsgründen ausgewechselt. Vidal war stark rot gefährdet, aber weiter besessen vom Sieg. Er blieb dann trotzdem noch zwei Jahre in Leverkusen, weil ihn Heynckes umschmeichelte. Aber man ahnt nach dieser Anekdote, was Arturo Vidal für ein Spieler ist: ein Heißsporn, ein Expressionist von einem Profi. „Auf dem Platz“, sagt Boldt „ist er ein Soldat.“

Junge, brave Profis

Man stelle sich nun Joshua Kimmich vor, wie er kochend vor Wut aus der Kabine Droh-SMS schreibt. Man stelle sich vor, dass der 22-Jährige seinen Ferrari während eines Turniers angetrunken zu Schrott fährt, wie Vidal es 2015 bei der Copa America getan haben soll. Man stelle sich vor, Kimmich rufe bei seinem FC Bayern an, damit ihm jemand eine Pizza aufs Zimmer bestellt wie einst Vidal in Leverkusen. Oder man macht die Augen zu und ersinnt Kimmich mit Tattoos am Hals und einem Bürstenschnitt auf dem Kopf wie Vidal. Es kann keinen größeren Kontrast zwischen zwei Welten geben.

Kimmich ist der Inbegriff einer Generation von jungen, braven Profis, die Bundestrainer Joachim Löw für sein Perspektivteam in Russland nominiert hat. Vidal dagegen, sein Clubkollege beim FC Bayern, führt eine Truppe von alten Kriegern um Claudio Bravo (34), Alexis Sanchez (28) und Charles Aranguiz (28) an. Das zweite Gruppenspiel der Deutschen wird auch ein Duell Streber gegen Soldaten, Jugend gegen Erfahrung.

Confed Cup: Fünf Tore zum DFB-Auftakt

Confed Cup: Fünf Tore zum DFB-Auftakt

Deutschland siegt zum Auftakt des Confed Cups 3:2 gegen Australien und offenbarte bei all der Dominanz einige Defensivschwächen
Deutschland siegt zum Auftakt des Confed Cups 3:2 gegen Australien und offenbarte bei all der Dominanz einige Defensivschwächen © Bongarts/Getty Images | Alexander Hassenstein
Leon Goretzka war bester Mann auf dem Platz und krönte seine starke Leistung durch ein Tor
Leon Goretzka war bester Mann auf dem Platz und krönte seine starke Leistung durch ein Tor © REUTERS | CARL RECINE
Der Schalker Goretzka wusste sofort, bei wem er sich zu bedanken hatte: Vorlagengeber Kimmich
Der Schalker Goretzka wusste sofort, bei wem er sich zu bedanken hatte: Vorlagengeber Kimmich © dpa | Marius Becker
Stindl freut sich über seine Torpremiere
Stindl freut sich über seine Torpremiere © REUTERS | KAI PFAFFENBACH
Sandro Wagner fehlte diesmal das Fortune. Der Stürmer ging leer aus
Sandro Wagner fehlte diesmal das Fortune. Der Stürmer ging leer aus © REUTERS | KAI PFAFFENBACH
Leno schien den Ball schon gefangen, doch er ließ ihn wieder fallen, sodass Australien zum 2:3-Anschlusstreffer kam
Leno schien den Ball schon gefangen, doch er ließ ihn wieder fallen, sodass Australien zum 2:3-Anschlusstreffer kam © dpa | Sergei Grits
Auch beim ersten Gegentor sah Leno nicht gut aus
Auch beim ersten Gegentor sah Leno nicht gut aus © Sergei Grits/AP/dpa
Der Protest half nichts: Das Gegentor zum 2:3 nach einem Patzer von Leno zählte
Der Protest half nichts: Das Gegentor zum 2:3 nach einem Patzer von Leno zählte © dpa | Christian Charisius
Timo Werner machte nach seiner Einwechslung mächtig Dampf
Timo Werner machte nach seiner Einwechslung mächtig Dampf © Getty Images | Dean Mouhtaropoulos
Kapitän Draxler behielt beim Elfmeter die Nerven
Kapitän Draxler behielt beim Elfmeter die Nerven © REUTERS | KAI PFAFFENBACH
Rudy war der Taktgeber im Mittelfeld
Rudy war der Taktgeber im Mittelfeld © dpa | Christian Charisius
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Deutschland tritt mit dem jüngsten Kader des Turniers an (24,4 Jahre Durchschnittsalter), Chile mit dem ältesten (29,1). „Chile wird ein komplett anderes Spiel als Australien werden“, sagte Löw am Mittwoch, der auf seinen 100. Sieg als Nationaltrainer hofft. Und er lobt: „Sie sind ausgestattet mit einer unglaublichen Siegermentalität.“ Chile ist ohnehin sein heimliches Vorbild, aber dazu später mehr. „Sie haben eine der weltbesten Mannschaften. Da können wir sehen, wo unsere Grenzen sind“, sagt Julian Brandt. Es wartet eine Reifeprüfung aufs deutsche Team.

Auch Brandt hat die Chilenen nach dem 3:2 gegen Australien als „elf Soldaten“ beschrieben. Und der 21-Jährige ist ebenso weit weg davon wie Kimmich. Er gehört zur Streber-Generation im Löw-Team, so wie Leon Goretzka (22), was keineswegs despektierlich gemeint ist. Der Bundestrainer beschreibt es so: „Man erkennt bei den jungen Spielern heute, dass sie sehr schnell Dinge begreifen und sie nahezu perfekt umsetzen wollen.“

Verbesserte Ausbildung

Das gilt für den Fußball und hat die deutlich verbesserte Ausbildung in den Jugendleistungszentren zur Grundlage. „Technisch und unter Druck haben sie mehr Lösungen als früher“, sagt Löw und meint zum Beispiel 2005, als er beim Confed Cup in Deutschland noch Co-Trainer der Nationalelf war. Aber die Fähigkeit zum schnellen, ständigen Lernen und zum Perfektionismus geht über das Spielfeld hinaus. Man sieht Kimmich nach dem Australien-Spiel in fließendem Englisch mit einem amerikanischen Reporter parlieren. Man liest Goretzkas Ausführungen über Ernährungsumstellungen. Und man staunt ein wenig über Brandt, der keinen Bock auf Ferraris hat. Der Fußballproll ist Geschichte. Jetzt sind die netten, klugen Jungs dran.

Einer, der diesen Wandel begleitet hat, ist Horst Hrubesch. Der heutige DFB-Sportdirektor ist gerade in Grassau bei der U-19-Nationalelf, die sich auf die EM in Georgien vorbereitet, als das Telefon klingelt. 18 Jahre lang ist Hrubesch bereits beim DFB, hat verschiedene Jugendteams zu Titeln geführt und 2016 die Olympia-Auswahl zu Silber in Rio de Janeiro. Brandt und Goretzka standen im Kader, Letzterer als Kapitän, bis er früh verletzt abreisen musste. Kimmich hatte Hrubesch bei der U-21-EM 2015: „Das sind Jungs, die eigenständig denken, wissbegierig sind und ihre Individualität einbringen.“

„Früher war der Trainer ein Heiligtum“

Der große Unterschied zu früher liege neben dem Streben und der Qualität in der Mündigkeit in schon jungen Jahren. Der 66-Jährige hat bei Olympia und davor erlebt, wie Spieler zu ihm kamen und sagten: „Lass uns das anders machen.“ Und er hat sich darüber gefreut. „Früher war der Trainer ein Heiligtum, und die Spieler haben gemacht, was er gesagt hat. Heute denken sie mit, hinterfragen und widersprechen auch mal“, sagt Hrubesch. Er wolle bei ihnen immer „Türen im Kopf“ aufstoßen. Bei Kimmich, Brandt und Goretzka waren sie schon offen.

Beim Confed Cup sind sie es, die bisher für Aufsehen sorgen, und die Löw meint, wenn er sagt: „Es sind hier Spieler dabei, die entwicklungsfähig sind und die Qualität haben, in die Weltspitze zu kommen.“ Nun muss sich seine junge Garde gegen Chile beweisen, das trotz der Altersstruktur keineswegs rückständig ist. Vielmehr kann man den Südamerika-Meister als heimliche Inspirationsquelle des Bundestrainers bezeichnen. Zweimal hat Löw seinen Chefscout Urs Siegenthaler zuletzt auf den Kontinent geschickt, um Chile zu studieren. „Sie sind taktisch eines der flexibelsten Teams der Welt, eine unberechenbare Mannschaft“, sagt Löw.

Chilenische Stärke

Der Grund für die chilenische Stärke sei der Wille, über den eigenen Tellerrand zu schauen: „Sie sind nicht nur fokussiert auf ihre eigene Mentalität und Spielweise, sondern suchen sich auch Einflüsse von allen anderen Kulturen“, hat Löw mal dieser Zeitung gesagt. Über den eigenen Tellerrand zu schauen ist am Ende auch die Stärke der Streber-Generation.

Deutschland: ter Stegen – Kimmich, Rüdiger, Mustafi, Hector – Brandt, Can, Goretzka – Draxler – Werner, Wagner. Chile: Bravo – Isla, Medel, Jara, Beausejour – Díaz – Vidal, Aránguiz – Fuenzalida, Vargas, Sánchez. Weiteres Spiel heute: Kamerun – Australien (17 Uhr)