Für Jacob Heidtmann sind die deutschen Schwimm-Meisterschaften in Berlin diesmal eine Zwischenstation

Jacob Heidtmann ist ausgesprochen gut gelaunt. Er nimmt sich Zeit zum morgendlichen Plausch, erst um 13 Uhr, ungewöhnlich spät für ihn, hat er die nächste private Verabredung. Vier Tage vor den nationalen Titelkämpfen in Berlin, die am Donnerstag beginnen, wirkt der deutsche Meister und Rekordhalter über 400 Meter Lagen fröhlich, locker, entspannt. Die Ursache dessen ist schnell erklärt. „Ich bin in der Taperphase, dadurch ist das ganze Leben gleich viel relaxter“, sagt Deutschlands schnellster Vielseitigkeitsschwimmer. „Sie hätten mich mal vor einer Woche erleben müssen, da hätten Sie weniger Spaß mit mir gehabt. Da war ich fix und fertig.“

Vor wichtigen Wettkämpfen reduzieren Schwimmer ihr umfangreiches Trainingsprogramm, damit sich ihr Körper vor den anstehenden Belastungen erholen kann. Das nennt man Tapering. Die eine oder andere anstrengende Ausdauer- oder Krafteinheit fällt aus, Heidtmanns Arbeitstag verkürzt sich dann von 14 auf zehn Stunden. Gewöhnlich ist er von sieben Uhr morgens bis 21 Uhr abends fürs Studium, zweites Semester Sozialökonomie, und Schwimmen unterwegs, jetzt steht er schon mal zwei Stunden später auf. Das gelingt nicht immer, denn gegen sechs Uhr morgens klingelt manchmal der Dopingfahnder an der Tür seiner Anderthalbzimmerwohnung im Hamburger Stadtteil Dulsberg.

Elfmal musste er allein in diesem Jahr Wasser lassen, deshalb ist Heidtmann extrem verstimmt darüber, wie lax das Internationale Olympische Komitee (IOC) und sein Präsident Thomas Bach bis heute das Staatsdoping in Russland angehen. „Bach sagt doch stets, das Wohl der Athleten stehe bei ihm im Vordergrund, das der sauberen Sportler offenbar weit weniger“, klagt Heidtmann. Seine Stimme hat Gewicht. Seit diesem Jahr ist der 22-Jährige Sprecher der deutschen Schwimm-Nationalmannschaft.

Im Jahr nach Olympia hatsein Studium Vorrang

Im Jahr nach den Olympischen Spielen in Rio hat Schwimmen für Heidtmann allerdings nicht oberste Priorität. Elf Wochen Urlaub gönnte er sich nach Olympia. „Kopf und Körper haben diese Pause gebraucht.“ Eine Geburtstagsparty mehr als sonst habe er zuletzt besucht, er wollte auch ernsthaft studieren, was in den nächsten drei Jahren bis zu den Spielen 2020 in Tokio wohl nicht immer möglich sein wird. Dafür hat er seine Trainingsumfänge etwas gestrafft. Aber Heidtmann sagt auch: „Schade, dass es noch drei Jahre bis Tokio dauert. Olympia ist für jeden Athleten etwas ganz Besonderes.“

Die Erinnerungen an seine ersten Spiele sind geprägt vom Strand der Copacabana, von Sonne, dem Lifestyle „und dass dort alle immer gut drauf waren“. Verdrängt hat er nicht, was damals im Becken geschah, schließlich wird er immer wieder darauf angesprochen. Im Vorlauf über 400 Meter Lagen hatte er einen neuen deutschen Rekord geschwommen, sich als Fünftschnellster fürs Finale qualifiziert. Weil er nach der Wende zum Brustschwimmen einen Beinschlag zu viel gemacht haben soll, wurde er aus dem Rennen genommen. Aufhören wollte Heidtmann danach. Er hat davon alsbald Abstand genommen. „Schwimmen macht mir einfach zu großen Spaß.“

Es ist allein dieser Spaß, der ihn immer noch antreibt, ihn die tägliche Fron ertragen lässt. Zwar sei sein bescheidenes Einkommen auskömmlich, wie er sagt, jedoch selbst Weltklassesportler in einer olympischen Kernsportart wie Heidtmann finden kaum Sponsoren, nicht mal kleine lokale oder regionale. Die Stadtwerke Elmshorn unterstützen ihn zwar weiter, die Stiftung Deutsche Sporthilfe, das Team Schleswig-Holstein, der erhoffte Partner für ein Leasingfahrzeug fand sich bisher aber nicht. Fürs Essen gibt er rund 200 Euro im Monat aus, sonntags nimmt er schon mal Aufschnitt und Brot vom elterlichen Frühstückstisch mit, einen Restaurantbesuch kann sich eigentlich nicht leisten. Dabei würde er hin und wieder gern ein Steak verzehren, gerade weil Eiweiß eines seiner Hauptnahrungsmittel sein sollte.

Um bis Tokio die letzten zwei bis drei Sekunden zur absoluten Weltspitze wettzumachen, hat Heidtmann mit Veith Sieber, dem neuen Chefcoach am Hamburger Bundesstützpunkt, andere Schwerpunkte im Training gesetzt: mehr Kraft, weniger Ausdauer, statt 80 Kilometer Schwimmen derzeit nur die Hälfte. Dreimal in der Woche stehen nun Bankdrücken, Klimmzüge und Kniebeugen mit 120 Kilo Gewicht auf dem Programm. Sechs Kilo Körpergewicht, davon fünf Kilo Muskelmasse, hat er in den vergangenen Monaten zugelegt. 91 sind es jetzt bei 1,96 Meter Größe. Idealmaße für einen Schwimmer. Mit der zusätzlichen Kraft müsse er noch lernen umzugehen, sie richtig über die gesamten 400 Meter dosieren, sagt Heidtmann. Die Muskeln drohen zu übersäuern, wenn er die ersten 100 Meter Schmetterling zu schnell angeht, „was kein schönes Gefühl ist“.

Die deutschen Meisterschaften sind für Heidtmann die einzige Möglichkeit, sich für die WM in Budapest (23. bis 30. Juli) zu qualifizieren. Am Freitag springt er ins Wasser. Die Norm liegt mit 4:13,5 Minuten fast anderthalb Sekunden über seinem deutschen Rekord von 4:12,08 Minuten. „Das wird dennoch kein Selbstgänger, weil wir in dieser Saison im Hinblick auf Tokio viel experimentiert haben.“

Vor der Abfahrt am Mittwochnachmittag nach Berlin muss Heidtmann an der Uni über seine Hausarbeit referieren. Sein Thema: „Auswirkungen von Hartz IV auf die soziale Ungleichheit“. Als olympischer Spitzensportler weiß er nur allzu gut, worüber er redet.