Hamburg. Ausgerechnet Ersatzmann Luca Waldschmidt hat sich neben Marcelo Díaz einen Platz in der Retter-Ahnengalerie des HSV erköpft.
Wolfgang Waldschmidt sucht auch am Sonntagvormittag noch nach den passenden Worten. „Hammer“, sagt der 54-Jährige. Und noch einmal: „Das war der Hammer.“ Der frühere Zweitligaprofi dreht mit Hund Sam im Eppendorfer Park seine Runden und versucht vor seiner Rückreise in die hessische Heimat die Geschehnisse des Vortags im Kopf zu ordnen. „Das alles kann man ja noch immer gar nicht so richtig glauben“, sagt Waldschmidt senior. „Da macht der Jung seine Bude, und das ganze Stadion dreht durch.“
Der Jung, das ist Luca Waldschmidt, Wolfgang Waldschmidts Sohn. Und die Bude, die darf man wohl ohne allzu große Übertreibung als einen der wichtigsten Treffer der HSV-Geschichte bezeichnen. Eingerahmt in einer Rettergalerie neben den Toren von Pierre-Michel Lasogga 2014 in der Relegation gegen Fürth und Marcelo Díaz 2015 in Karlsruhe. „Diesen Treffer wird der Luca sein Leben lang nicht mehr vergessen“, sagte Sportchef Jens Todt am Sonnabend, als um ihn herum alle Dämme brachen: Mergim Mavraj lief brüllend durch die Katakomben, Lewis Holtby war schon lange nur noch mit Unter- und Fußballhose bekleidet, und Michael Gregoritsch beklagte lautstark den stockenden Biernachschub. Nur ein HSV-Profi stand da ganz ruhig im Auge des Feierorkans: Luca Waldschmidt.
Geil sei das alles gewesen, sagte der gefeierte Held auf Nachfrage, und dann ganz nüchtern: „Es ist toll, dass wir damit unser Ziel Klassenerhalt erreicht haben.“ Die Mannschaft habe sich immer zurückgekämpft, auch in diesem Spiel. Und während der Mann des Tages so redete, schien ihm nur langsam zu dämmern, was da gerade passiert war. In der 89. Minute. Flanke Kostic, Kopfball Waldschmidt, Tor. Ob das der schönste Moment seiner Karriere gewesen sei, fragte einer. „Ja“, antwortete der Stürmer schüchtern, um dann doch einen kernigen Satz hinterherzuschieben: „Von solch einem Moment habe ich seit meiner Kindheit geträumt, wahrscheinlich schon im Bauch meiner Mutter.“
Waldschmidt wurde am Abend im Gaga zur Kasse gebeten
Papa Waldschmidt muss lachen, als er rund 18 Stunden später von den Ausführungen seines Filius hört. „Ein schöneres Geburtstagsgeschenk hätte sich der Luca nicht machen können.“ Der 21. Ehrentag seines Sohnes sei auch der Hauptgrund gewesen, warum Wolfgang Waldschmidt bereits am Freitag mit der ganzen Familie aus Hessen angereist war. „Wir haben nur kurz im Mannschaftshotel vorbeigeschaut und gratuliert. Der Jung sollte sich ja auf das wichtige Spiel gegen Wolfsburg am nächsten Tag konzentrieren.“
Gesagt, getan. Allerdings waren es nicht Papas Worte, die Luca Waldschmidt kurz vor seiner Einwechslung in der 86. Minute im Kopf schwirrten. „Als ich gesehen habe, dass sein Trikot hochgehalten wird, habe ich ihm noch zugerufen: ,Reinkommen, Tor machen, nach Hause fahren‘“, erinnerte sich Torhüter Christian Mathenia, der Waldschmidts Hotel-Zimmernachbar ist. „Und so ist es ja auch gekommen. Es freut mich mega für ihn. Aber Lucas Abend wird heute richtig teuer.“
Nach dem Spiel ging's zum Essen ins Portugiesenviertel
Die genaue Rechnung des Feierabends ist nicht bekannt. Wirklich günstig dürfte Waldschmidt, der neben seinem Geburtstag auch seinen ersten Bundesligatreffer begießen durfte, allerdings nicht bei weggekommen sein. Direkt nach dem Spiel lud der frühere Frankfurter seine Familie ins Portugiesenviertel zum Essen ein, abends wurde mit der Mannschaft, dem Trainerteam und der Geschäftsstelle im Club Gaga auf der Reeperbahn gefeiert. „Luca muss Verantwortung übernehmen. Er ist unser Partykapitän“, witzelte Spielführer Gotoku Sakai, der schon vor dem Treffpunkt um 23.30 Uhr die Marschrichtung der Nacht festgelegt hatte.
Unabsteigbar: Der HSV feiert die Rettung
Auf dem Spielfeld durfte Waldschmidt in dieser Saison dagegen nur selten Verantwortung übernehmen. In gerade mal 14 Spielen wurde der Neuling von Eintracht Frankfurt elfmal ein- und dreimal ausgewechselt, insgesamt durfte er lediglich 349 Saisonminuten spielen. „Natürlich hat sich der Luca die Saison anders vorgestellt“, sagte Papa Waldschmidt am Sonntag auf seiner Hunderunde. „Aber vielleicht wird ihm das Tor ja ein wenig Auftrieb geben.“
Höflich über den Kalauer von Clubchef Bruchhagen geschmunzelt
Genau darauf hofft vor allem einer: Waldschmidt selbst: „Es war nicht immer einfach für mich in dieser Saison. Aber ich habe versucht, mich nie hängen zu lassen und in jedem Training und in jedem Testspiel Gas zu geben.“ Der Nachwuchs-Torjäger, der seinen Rettungstreffer in letzter Minute mit einem Antoine-Griezmann-Gedächtnis-Jubel zelebrierte, gab eine halbe Stunde nach seinem Tor der Tore auch zu, dass er die Wucht des HSV vor dem Wechsel im vergangenen Sommer unterschätzt hatte. „Dass der HSV so eine Kraft entwickeln kann, hätte ich vor meinem Wechsel nicht gedacht – unglaublich!“
Irgendwann hatte Waldschmidt dann aber alle Fragen beantwortet und auch höflich über den Kalauer von Clubchef Heribert Bruchhagen („Ich habe Luca vor zweieinhalb Jahren in Frankfurt seinen Profivertrag gegeben, in der Hoffnung, dass er heute in der 88. Minute das Tor schießt“) geschmunzelt. „Schönen Abend noch“, sagte der Mann des Tages, ehe er sich umdrehte und seinem Cousin Sven in die Arme fiel. Der 1,88 Meter große Innenverteidiger von Altona 93, der seinen nun berühmten Cousin um fast einen Kopf überragt und der deutlich bessere Kopfballspieler in der Eppendorfer Waldschmidt-WG sein soll, war auch lange nach dem Schlusspfiff noch hin und weg. „Ich kann das gar nicht glauben“, sagte Waldschmidt. Nicht Wolfgang, nicht Luca, sondern Sven. „Das ist unfassbar. Der Hammer.“ Kurze Pause. „Wirklich der Hammer.“