Hamburg. Nie zuvor hatte ein Tabellen-17. nach 28 Spielen in der Zweiten Liga so viele Punkte wie jetzt der FC St. Pauli

Wie gewonnen, so zerronnen. Als die Fußballprofis des FC St. Pauli am frühen Sonntagnachmittag ihren ersten freien Tag nach der kräftezehrenden, englischen Woche in der Zweiten Liga auf dem heimischen Sofa, mit einem Spaziergang oder dem Spielen mit den eigenen Kindern genossen, triumphierte Konkurrent Erzgebirge Aue im Heimspiel gegen 1860 München mit 3:0 und überholte St. Pauli wieder in der Tabelle.

Der 2:0-Auswärtssieg am vergangenen Freitagabend beim 1. FC Nürnberg hat den Hamburgern im Hinblick auf den Tabellenplatz also nicht wirklich geholfen. Wie vor der Partie bei den Franken belegt St. Pauli den 17. Platz, einen direkten Abstiegsrang „Es ist natürlich so, dass man auf die Tabelle schaut und sich mit der Situation beschäftigt. Umso wichtiger ist es, dass man zwischendurch auch mal an etwas anderes als Fußball denkt, weil man sich dann auch wieder auf den Punkt fokussieren kann, wenn es um die Wurst geht“, sagt dazu St. Paulis Kapitän Sören Gonther. Die Konstellation, dass nach 28 Spielen nicht einmal 29 Punkte ausreichen, um wenigstens den Relegationsplatz oder gar einen Nicht-Abstiegsplatz zu belegen, ist ein klares Indiz dafür, dass der Kampf um den Saison-Klassenerhalt auf ex­trem hohem Niveau stattfindet. Allein am Wochenende gewannen die gefährdeten Teams von Arminia Bielefeld, 1. FC Kaiserslautern, Erzgebirge Aue und nicht zuletzt der FC St. Pauli ihre Spiele – alle gegen höher platzierte Mannschaften.

Noch nie zuvor seit Einführung der Drei-Punkte-Regel hatte nach 28 von 34 Spielen ein Tabellenvorletzter so viele Punkte wie jetzt der FC St. Pauli (29). Am nächsten kam Union Berlin mit 28 Zählern in der Saison 2003/04 – und stieg am Ende (17./33 Punkte) ab. „Es kann wohl gut so sein, dass diesmal noch mehr Punkte nötig sein werden als vor zwei Jahren“, sagt Kapitän Gonther. Damals hatte sein Team zum selben Zeitpunkt der Saison mit 25 Punkten vier weniger als jetzt – stand damit aber immerhin auf Rang 16. Am Ende retteten sich die Kiezkicker bekanntlich als Tabellen-15. mit insgesamt 37 Zählern.

Auch wenn es auf den ersten Blick frustrierend erscheinen mag, dass den St. Paulianern selbst ein verdienter und ungefährdeter Auswärtssieg beim 1. FC Nürnberg nicht genügt, um in der Tabelle zu klettern, war dieser Erfolg von einer immensen Bedeutung. Es war das Signal, dass die Braun-Weißen nach zwei enttäuschenden Spielen zuvor in Aue (0:1) und gegen Sandhausen (0:0) wieder in die Spur gefunden haben, die nach oben und damit letztlich zum Klassenerhalt führt. Aus den jüngsten 14 Spielen holte St. Pauli jetzt immerhin 23 Punkte (1,64 pro Spiel). In den ersten 14 Partien der Saison waren nur ganze sechs Zähler zusammengekommen. „Wir sind in der Rückrunde total im Soll. Es sieht nur deshalb noch so schlecht aus, weil wir eine sehr schwache Hinrunde hatten. Ich bin sehr guter Dinge, dass wir das auch noch korrigieren können“, sagt Gonther.

Diese Zuversicht rührt auch aus der Tatsache, dass durch die Siege der „Kellerkinder“ – allerdings ohne Beteiligung des praktisch chancenlosen Schlusslichtes Karlsruher SC (22 Punkte) – der Kreis der gefährdeten Mannschaften immer größer geworden ist. Selbst der Tabellenachte 1. FC Nürnberg (35 Punkte) kann sich inzwischen nicht mehr sicher fühlen und schaut nach zwei Niederlagen in Folge mit einer gewissen Verunsicherung seinem kommenden Spiel gegen Erzgebirge Aue entgegen.

Noch mehr in der Bredouille als Nürnberg befindet sich mittlerweile auch St. Paulis kommender Gegner Würzburger Kickers. Nach der Hinserie wies der Aufsteiger als Sechster noch 16 Punkte mehr als das damalige Schlusslicht St. Pauli auf. Jetzt ist dieses Polster auf drei Zähler geschmolzen, sodass die Kiezkicker am kommenden Sonntag sogar am Team des ehemaligen St.-Pauli- und HSV-Profis Bernd Hollerbach vorbeiziehen können.

„Es wird am Sonntag nichts entschieden. Aber wir wollen unseren Schwung mitnehmen“, sagt Gonther. „Die Tabellensituation ist vogelwild und nicht berechenbar. Es ist schon heftig, was da in diesem Jahr passiert. Umso wichtiger ist es, dass wir auf uns schauen und unsere Spiele gewinnen.“ Zwischen Nürnberg und St. Pauli tummeln sich insgesamt acht Mannschaften, die zwischen 34 und 30 Punkte aufweisen. „Es ist mir egal, ob andere noch unten reinrutschen. Ich will einfach da rauskommen“, sagt St. Paulis Mittelfeldspieler Christopher Buchtmann – eine ziemlich pragmatische Sichtweise.

An diesem Montag haben die Spieler des FC St. Paulis einen weiteren freien Tag – fast jedenfalls. „Wir haben unsere Pulsuhren mitbekommen und müssen individuell einen Lauf absolvieren“, erzählte Kapitän Gonther am Sonnabend nach der Rückkehr aus Nürnberg. Am Dienstagvormittag startet dann die gemeinsame Vorbereitung auf das Heimspiel gegen Würzburg.

St. Pauli-Geschäftsführer Andreas Rettig hat sich in der Sendung Sky90 – die Fußballdebatte – vehement dafür eingesetzt, den Einfluss von Investoren im deutschen Fußball zu verhindern und die 50+1-Regel aufrechtzuerhalten. Rettig fürchtet „englische Verhältnisse“ sollte die Regel fallen, die den Muttervereinen immer die Stimmenmehrheit in einer eventuellen Kapitalgesellschaft garantiert. Ticketpreise würden steigen, Fans hätten es schwerer, sich zu identifizieren, wenn sie nicht mehr mitentscheiden könnten, die Clubs würden ihre „Seele“ verlieren. Ein vollständiger Verkauf von Anteilen an Investoren könne die Existenz der Clubs gefährden.