Der frühere HSV-Fan Ralf Bednarek war Chef der Supporters – und interessiert sich heute nicht mehr für Fußball. Die Geschichte eines Aussteigers

Der Mann mit den langen Haaren und dem langen Bart sitzt in der Küche einer Altbauwohnung im Schanzenviertel und stützt beide Ellbogen auf den Küchentisch und mit den Händen seinen Kopf. Ist das noch mein Fußball?, lautet die einfache Frage, auf die Ralf Bednarek eine kurze und eine bartlange Antwort parat hat. „Nein“, ist die kurze. Die lange kommt zum gleichen Resultat, ist aber komplizierter: „Bei der Beantwortung dieser Frage muss man differenzieren“, sagt der 42 Jahre alte Anwalt. „Die Frage hat ja zwei Komponenten: Ist das noch mein HSV? Und ist das noch mein Fußball ganz allgemein?“

Ralf Bednarek war so jemand, den man als Hardcore-Fußballfan bezeichnen konnte. Der Boulevard nannte ihn bisweilen auch „Superfan“ oder „Fan-Chef“, was der früher durch und durch überzeugte HSV-Anhänger aber nicht gerne las. Dabei war das gar nicht mal falsch. Als Dreijähriger rief er begeistert „Hasefau“ Passanten aus dem Zugfenster zu, wenig später ging er erstmals mit Papa und Mama in das Volksparkstadion. Als Siebenjährigen nahm ihn sein Opa, ein Bürgerschaftsabgeordneter der SPD, 1982 zur Meisterfeier des HSV mit ins Rathaus. Und 1987 fuhren Opa, Papa und der zwölf Jahre alte Ralf ins Berliner Olympiastadion zum Pokalfinale und zum letzten Titelgewinn des HSV.

„Der HSV gehörte bei uns zur Familie“, sagt Bednarek, für den der Hamburger Sport-Verein auch immer mehr zur Familie wurde. Dauerkarte, erstes Auswärtsspiel alleine mit einem Kumpel („ein 1:1 an einem Freitagabend in Kaiserslautern. Richard Golz hatte leider mal wieder in den Boden getreten“), die ersten europäischen Reisen und irgendwann schließlich ein sogenannter Alles-Fahrer. „Es gab nie einen anderen Verein für mich als den HSV“, sagt Bednarek, der 1998 Mitglied und zehn Jahre später sogar Vorsitzender der HSV-Fan-Organisation Supportersclub wurde: „Ich war einfach infiziert.“

Doch was muss passieren, dass dieser Super-Fanchef-Hardcore-Anhänger heute in einer Küche in der Schanze sitzt und sagt: „Ich bin aus der ganzen Nummer raus.“? Wie kann man von 100 auf null Prozent runterfahren? Oder belügt man sich etwa selbst?

Viele Fragen, auf die Bednarek eine eindeutige Antwort hat. „Ich kann mich einfach nicht mehr mit dem heutigen Fußball identifizieren.“ China, England, TV-Verträge, Beratermillionen. Der heutige Fußball, das ist für Bednarek vor allem eines: „Es geht nur noch um das Geldverdienen. Der Sport gerät immer mehr in den Hintergrund. Auch schon früher war der Hokuspokus-Anteil groß, jetzt ist er unerträglich riesig. Ich habe das Interesse am Fußball komplett verloren“, sagt der geborene Hamburger, der sich nicht mal mehr Spiele im Fernsehen anschaut. „Für mich ist es das Alles-oder-nichts-Prinzip.“ Mit Fußball und Fans hat er nur noch beruflich als Strafverteidiger zu tun.

Alles oder nichts. Bednarek ist überzeugter Veganer, isst keinen Käse, kein Fleisch, keinen Fisch, keine Eier. Der HSV war lange Zeit für ihn alles. 30 Stunden ehrenamtliche Arbeit pro Woche neben dem Anwaltsjob am Feierabend. „An vier von fünf Tagen in der Woche war ich erst um Mitternacht zu Hause. Ich habe das gerne gemacht, es hat Spaß gebracht. Aber irgendwann war es einfach zu viel, ich war leer, konnte nicht mehr“, sagt Bednarek. Und statt alles war die einzige Alternative: nichts.

Es passt zu Bednareks Geschichte, dass der Anfang vom Ende seiner HSV-Liebe einer dieser Alles-oder-nichts-Momente war. Der 13. Januar 2013, Mitgliederversammlung, Aufsichtsratswahlen. Vier neue Kontrolleure wurden gesucht – und Bednarek galt als einer der Favoriten. „Übernehmen die Fans die Macht?“, fragte die „Bild“ in großen Buchstaben. Doch die Fans übernahmen gar nichts. Im Gegenteil. Ali Eghbal, ein zuvor völlig unbeschriebenes Blatt, wurde mit 535 Stimmen gewählt, nachdem er auf dem Podium gestrippt und in die grölende Menge gerufen hatte: „Mein Name ist Eghbal, immer noch besser als Freistoß oder Elfmeter.“ Am Ende des Nachmittags fehlten Bednarek, der am Vortag sein Mandat als Supporterschef ­zugunsten des erhofften Aufsichtsratsmandats niedergelegt hatte, 14 Stimmen zum Erfolg. „Ich muss mir das selbst zuschreiben“, sagt Bednarek jetzt, als der frühere Fanchef, einst ein oft gefragter Gesprächspartner, erstmals überhaupt wieder öffentlich über sich und den HSV redet. „Mein Auftritt damals war blutleer.“

Des einen Leid ist des anderen Freud. „Geil, Bednarek ist gescheitert“, schrieb HSVFritz an jenem Nachmittag im Abendblatt-Blog Matz ab, „Ins Gesicht, Bednarek!“, schrieb Tom. Es waren noch die eher netteren Kommentare. „Die Anfeindungen im Internet während meiner Amtszeit haben mich nicht kaltgelassen. Ich fand das ehrlich gesagt erschreckend“, sagt Bednarek, der gegen manch einen anonymen Blogschreiber sogar juristisch vorging. „Wir hatten sogar Erfolg vor Gericht, aber wenn der eine verschwunden war, ist der nächste Blog schon wieder aufgetaucht.“

Bednarek und sein HSV – die Wahlschlappe war möglicherweise der Anfang vom Ende, auch wenn er selbst das überzeugend relativiert: „Das glauben viele, aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Natürlich war ich damals ex­trem enttäuscht und genervt, aber meine Nicht-Wahl war nicht der Grund, dass ich nicht mehr zum HSV gehe.“

Nur ein paar Wochen wollte der Fast-Aufsichtsrat damals Pause machen, dann aber wieder normal ins Stadion gehen. „Dann merkte ich plötzlich, dass ich nichts mehr vermisse.“ Ins Stadion ging er dann aber doch. Noch zweimal. Erst ein 1:5 zu Hause gegen Hoffenheim. Dann ein 2:6 auswärts in Dortmund. „Ich wollte es noch mal probieren, aber es hat einfach nicht mehr klick gemacht.“

Alles oder nichts. Ralf Bednarek entschied sich für nichts. „Es war einfach vorbei.“ Insbesondere nach der Ausgliederung, die Bednarek als entscheidenden Faktor seiner Entfremdung bezeichnet: „Mit der Ausgliederung war das Kapitel HSV für mich erledigt. Die Beteiligung einzelner Personen an meinem Verein, beziehungsweise nun an der AG, kann ich nicht gutheißen oder tolerieren.“ Er sei niemandem böse, auch dem HSV nicht. Aber dann solle bitte schön auch ihm niemand böse sein, dass die HSV AG eben nicht sein HSV sei. „Ich habe immer zu den Kritikern gesagt: Engagiert euch! Lasst euch wählen – oder wählt selbst. Aber das hat einfach niemanden interessiert. Stattdessen haben die Mitglieder sich selber und ihre Rechte abgeschafft.“

Irgendwann hat ihn dann das alles nicht mehr interessiert. Als Marcelo Díaz ein Jahr nach der Ausgliederung das entscheidende Tor zur Rettung in der Relegation schoss, saß Bednarek im Auto und fuhr von der Arbeit nach Hause. „Die Straßen waren leer. Ich dachte mir, was ist bloß los. Ich machte das Radio an und merkte: Ach so, Relegation.“

Seine Dauerkarte hat Bednarek trotzdem erst im vergangenen Sommer abgegeben, als er auch ausgetreten ist. Wenn er nun auf einer Party gefragt wird, wieso, weshalb, warum, hat er sich eine Antwort zurechtgelegt: „Für mich ist das so, als wenn man eine alte Jugendliebe wiedertrifft und sich selbst fragt: Warum fand ich die eigentlich so toll?“ Am Ende ist es Liebe. Oder eben nicht. Es ist: alles oder nichts.