Hamburg. Der Direktor des traditionellen Turniers über die Aussichten für Deutschlands Tennisasse und die Zukunft des Hamburger Events

Auf dem ovalen Marmortisch in Michael Stichs Büro an der Heilwigstraße stehen eine Schale mit Milka-Schokoladentalern und ein Körbchen mit Zeitschriften. Eine Glaskugel fehlt – aber die braucht der 48 Jahre alte Wimbledonsieger von 1991 nicht, um den Wunsch des Abendblatts zu erfüllen, die Geschehnisse des Tennisjahres 2017 vorzuempfinden. Er sei kein guter Wahrsager, schickt der Rothenbaum-Turnierdirektor voraus. Eine Meinung hat er dennoch zu allen Themen.

Herr Stich, in der Nacht zu diesem Montag hat in Melbourne das erste Grand-Slam-Turnier der Saison 2017 begonnen. Alle fragen sich nach Angelique Kerbers durchwachsenem Start – Viertelfinalaus in Brisbane, Erstrunden-K.-o. in Sydney –, ob sie ihren Australian-Open-Titel erfolgreich verteidigen kann.

Michael Stich: Wenn sie die ersten beiden Runden übersteht und ihren Rhythmus findet, dann kann sie das. Immerhin wäre sie im vergangenen Jahr in Melbourne auch fast in Runde eins gescheitert und ist dann durchmarschiert. Dennoch wird es extrem schwierig, die Erfolge von 2016 zu wiederholen. Keine Spielerin hat gegen sie etwas zu verlieren, alle wollen sie schlagen. Körperlich und mental ist es sehr hart, sich nach einem solchen Jahr, wie sie es hatte, wieder neu zu motivieren. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, ich habe das bekanntlich nicht geschafft.

US-Legende John McEnroe bezweifelt, dass Kerber lange die Nummer eins der Welt sein wird. Wo steht sie am Ende des Jahres?

Für mich wäre es eine noch größere Überraschung als der Sprung an die Spitze, wenn sie es schaffen würde, dort auch am Jahresende noch zu stehen. Ich wünsche es ihr sehr, aber sie hat viele Punkte zu verteidigen und wird sich der Angriffe der Etablierten und der Jungen erwehren müssen. Und: Für sie zählen eigentlich nur noch Titel. Das erhöht den Druck.

Druck hat in diesem Jahr auch Alexander Zverev. Der 19 Jahre alte Hamburger ist kein unbekannter Youngster mehr, er wird als gestandener Profi wahrgenommen und muss sich beweisen. Schafft er das und vielleicht auch den Sprung in die Top Ten?

Sascha ist weltweit der Spieler, dem ich in dieser Saison den größten Sprung zutraue. Er hat sich körperlich und spielerisch enorm weiterentwickelt, was ich ihm in dieser Kürze der Zeit nicht zugetraut hatte. Er hat ein extrem professionelles Umfeld, ist selbst ebenso professionell und viel weiter als andere in seinem Alter. Natürlich ist es härter, oben zu bleiben, als nach oben zu kommen. Aber wenn er gesund bleibt, würde es mich nicht wundern, wenn er zum Jahresende unter den besten zehn der Welt steht, denn die Spieler von Platz sieben abwärts sind nicht stärker als er.

Wird sich Andy Murray an der Weltspitze behaupten, oder holt sich Novak Djokovic die Poleposition zurück?

Für mich ist Novak weiter der fitteste Spieler auf der Tour, mit ihm muss man immer rechnen, aber auch er wird älter, hat Familie. Wie sich die Trennung von Boris auswirkt, muss sich zeigen, aber er hat ja auch vor der Becker-Ära überragendes Tennis gespielt. Andy wird es ähnlich wie Angelique schwer haben, die Leistung von 2016 zu wiederholen. Aber es wird ein Zweikampf zwischen den beiden bleiben. Dahinter sehe ich Kei Nishikori und Milos Raonic. Rafael Nadal und Roger Federer sind in Topform Kandidaten für Grand-Slam-Titel, aber ob sie ihre Topform noch erreichen können, müssen wir abwarten.

Sehen Sie bei Damen und Herren Überflieger, die überraschen werden?

Neben Zverev würde ich mir Nick Kyrgios als Aufsteiger wünschen, weil unser Sport Typen wie ihn braucht. Er eckt an, ist aber absolut authentisch. Bei den Damen bin ich nicht so intensiv im Thema, aber ich finde, Eugenie Bouchard macht einen richtig starken Eindruck.

Traditionell finden die Teamwettbewerbe viel Beachtung. Schaffen es die Daviscup­herren, 2017 erfolgreicher zu sein als die Fedcupdamen?

Wenn bei uns und den Gegnern die Topbesetzungen auflaufen, dann denke ich, dass die Damen mit dem Auswärtsmatch in den USA das härteste Los gezogen haben und als Außenseiter antreten. Eher könnten die Herren daheim gegen Belgien weiterkommen.

Wird es das Doppel mit den Brüdern Sascha und Mischa Zverev geben?

Ausgeschlossen ist das nicht, aber ich denke, dass Sascha sich auf die Einzel konzentrieren wird. Allerdings weiß ich auch nicht, wen ich nominieren würde. Da hat Teamchef Michael Kohlmann eine harte Nuss zu knacken, uns fehlt ein ausgewiesener Doppelspieler.

Wünschenswert wäre, dass Tommy Haas sich würdig von seinen Fans verabschieden kann. Werden wir ihn im Juli am Rothenbaum sehen?

Wir werden auf jeden Fall alles versuchen, um ihm in seiner Geburtsstadt einen angemessenen Abschied zu ermöglichen. Er hat ja angekündigt, dass er noch in diesem Jahr seine Karriere beenden möchte. Australien ist für ihn eine Standortbestimmung, dann wird er wissen, was er sich noch zumuten kann. Es ist aber mein großer Wunsch, dass er bei uns aufschlägt.

2013 Federer, 2015 Nadal – die Hamburger Tennisfans rechnen fest damit, dass in diesem Jahr wieder ein Topstar in Hamburg startet. Wird es Djokovic?

Er fehlt in dieser Liste, das stimmt. Und wir versuchen es. Es hängt aber stark davon ab, wie die Topstars in Wimbledon spielen. Auch Andy Murray würden wir gern nehmen. Aber das ist eher unrealistisch.

Topstars kosten Geld. Werden Sie bis zum Juli einen Titelsponsor haben?

Dafür bräuchte ich wirklich eine Glaskugel. Wir arbeiten hart daran, denn es würde uns vieles vereinfachen, wenn es einen gäbe. Aber wir sind bis 2018 gut aufgestellt.

2018 endet ihr Ausrichtungsvertrag mit dem Deutschen Tennis-Bund (DTB). Wie es danach weitergeht, an welchem Standort und mit welchem Status, ist unklar. Wird es darüber in diesem Jahr Klarheit geben?

Die muss es geben, denn alle beteiligten Parteien brauchen Planungssicherheit. Wenn wir es nicht weitermachen, ist unsicher, dass es überhaupt in Hamburg bleibt. Ich hoffe deshalb, dass die Stadt den Wert des Turniers richtig einzuschätzen weiß und alles dafür tut, dass wir es auch über 2018 hinaus am Rothenbaum austragen.

Der Umbau der Anlage, die der Stadt gehört, aber sich per Erbpachtrecht bis 2049 im Besitz des Clubs an der Alster befindet, ist seit Jahren ein Thema. Kommt 2017 der Durchbruch?

Ich denke nicht, dass es dieses Jahr eine Entscheidung geben wird. Dazu ist die Lage zu kompliziert, weil es zu viele Interessen gibt. In welcher Form die Umgestaltung sinnvoll ist, müssen der DTB als Eigentümer des Stadions, der Club an der Alster und die Stadt beschließen. Meine persönliche Meinung ist, dass wir ein tolles Stadion haben, das man auch für andere Events nutzen kann und das man nicht abreißen, sondern nur modernisieren müsste.

Der DTB plant ab 2019, die Lizenzgebühr deutlich zu erhöhen, dazu steigt das Preisgeld jährlich. Wird die Stadt Ihnen 2017 finanziell kräftiger unter die Arme greifen?

Darauf haben wir keinen Anspruch, deshalb rechne ich mit gar nichts. Aber ich hoffe es sehr, weil wir die Hilfe gebrauchen können.

Sie haben die Sportpolitik in Hamburg immer wieder kritisiert. Werden Sie sich in 2017 stärker engagieren?

Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, außer als Fürsprecher für den Sport aufzutreten. Ich bin weiter der Meinung, dass es einen Senator braucht, der singulär nur für den Sport zuständig ist, um dem gesellschaftlichen Stellenwert des Sports Rechnung zu tragen. Generell wünsche ich mir, dass die Politik die Synergien besser nutzt und noch enger mit allen Sportveranstaltern kooperiert. Die Schaffung eines richtigen Netzwerks halte ich für enorm wichtig.

Ende 2014 haben Sie für den Posten als DTB-Präsident kandidiert. Werden Sie in diesem Jahr bei den Neuwahlen einen neuen Anlauf nehmen?

Nein, denn ich finde, dass das jetzige Präsidium in ruhiger und konstruktiver Art an Verbesserungen gearbeitet hat. Insbesondere Vizepräsident Dirk Hordorff hat konzeptionell viele wichtige Dinge angeschoben. Deshalb wäre es falsch, mit einer erneuten Kandidatur Unruhe hereinzutragen.

Verraten Sie uns zum Abschluss bitte, welche Schlagzeilen wir 2017 über das deutsche Tennis lesen werden.

Ich kann nur sagen, welche ich gern lesen würde: „Kerber gewinnt Wimbledon“, „Alexander Zverev beendet die Saison in den Top Ten“, „Deutsche Herren stehen im Daviscupfinale“, „Neuer Titelsponsor für den Rothenbaum“. Dann wäre 2017 ein richtig gutes Jahr!