Dubai. HSV-Coach Markus Gisdol über das bisher wichtigste Spiel in seiner Hamburger Zeit, seine Fußball-Philosophie, Ottmar Hitzfeld, den FC Barcelona, und warum er Heribert Bruchhagen und Jens Todt braucht

Manche Premieren brauchen ihre Zeit. Für seinen ersten Sieg mit dem HSV brauchte Trainer Markus Gisdol zehn Wochen, für sein erstes Zeitungsinterview sogar dreieinhalb Monate. Gut Ding will Weile haben, sagt man. „Ich will nicht jede Woche irgendein Blabla von mir geben“, sagt Gisdol.

Herr Gisdol, lassen Sie uns etwas ganz Verrücktes machen: Lassen Sie uns über Fußball sprechen. Sind Sie fußballbesessen?

Markus Gisdol: Fußballbesessen klingt mir zu negativ. Ich würde mich selbst eher als fußballverrückt bezeichnen. Fußball bestimmt mein Leben.

Bundestrainer Joachim Löw hat mal gesagt, dass während einer WM der Fußball Tag und Nacht seinen Geist und seinen Körper erfüllt. Ist das bei Ihnen ähnlich?

Ja, das kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich diszipliniere mich aber ganz bewusst, mache mich ab und an mal für eine Weile bewusst frei von diesem Fußballkosmos. Das bin ich mir und vor allem meiner Familie schuldig. Aber gerade in so einem Trainingslager hier in Dubai gelingt das kaum. Hier lässt mich der Fußball bis in den Schlaf nicht los.

Was muss passieren, damit Sie nach einem Trainingstag mit drei Einheiten zufrieden ins Bett gehen?

Wir bereiten jede Trainingseinheit bis ins kleinste Detail vor. Da ist es dann ein Hochgenuss, wenn man nach dem Training das subjektive Gefühl hat, dass unsere Überlegungen bei der Mannschaft von A bis Z angekommen sind. Manchmal gibt es so einen richtigen Klickmoment. Dann kann man regelrecht dabei zuschauen, dass der Spieler die nächste Stufe erklommen hat.

Gibt es oft solch einen Klickmoment?

Nein. Das ist schon etwas Besonderes. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Gerne stellen wir vor dem Training gewisse Provokationsregeln auf, dass die Spieler Pässe in einem abgesteckten Bereich ausschließlich nach vorn spielen dürfen. Wir machen es den Jungs im Training so schwer wie möglich, damit es ihnen im Wettkampf leichter fällt. Wenn diese Laborsituation auch im Spiel von jemandem, der eher zu Quer- und Rückpässen neigt, erfolgreich übertragen wird, freut man sich als Trainer total.

Im Training lassen Sie Ihre Assistenten die Hütchen mit einem Zentimeterband aufstellen. Ist so viel Perfektionismus nötig?

Ich finde, dass wir die Pflicht zum Perfektionismus haben. Das Trainingsfeld muss sich mit der Anzahl der Spieler ändern, die ich einplane. Und dann können wir es auch ganz genau machen.

Sie sind jetzt seit etwas mehr als 100 Tagen im Amt. Kann man in dieser Zeit eine „eigene Handschrift“, eine „eigene Philosophie“ implementieren?

Einen ersten Impuls kann und sollte man schaffen. Selbstverständlich kann man nicht 100 Prozent seiner Spielidee in so kurzer Zeit umgesetzt haben. Aber der normale Zuschauer sollte schon ein gewisses Schema erkennen können, welche Idee von Fußball hinter unseren Überlegungen steckt.

Ihr Mentor Helmut Groß hat uns gesagt, dass kaum einer so gut die Ergebnisse seiner Analyse vereinfacht an die Spieler weitergibt wie Sie. Wie genau machen Sie das?

Ich habe mich schon als Spieler immer gefragt, wie man gewisse Dinge der Mannschaft rüberbringen kann. Es ergibt aus meiner Sicht wenig Sinn, eine Videoanalyse länger als zehn bis maximal 15 Minuten anzusetzen. In diesem Zeitraum sind die Spieler maximal aufnahmefähig. Und in dieser Zeit ist es besonders wichtig, die Dinge greifbar zu machen. Als Trainer müssen wir klare Lösungen aufzeigen.

Besonders wenig Zeit hat man in der Halbzeitpause.

Deswegen konzentrieren wir uns in der Pause auf zwei, maximal drei Dinge, die wir beobachtet haben und ansprechen. Eine schnelle Videoanalyse kann hilfreich sein, kommt aber eher selten vor. Unser Videoanalyst Sören Meier kennt natürlich unseren Matchplan. Während die Spieler nach dem Pausenpfiff in der Kabine kurz verschnaufen, besprechen wir uns im Trainerteam mit Sören, ob wir ein paar ausgewählte Szenen auf Video zur Verdeutlichung einer Problematik brauchen oder nicht. Wichtig ist aber, dass es schnell entschieden wird.

Können Sie uns eine schnelle Analyse der HSV-Hinrunde liefern?

Ich kann nur für die Zeit sprechen, in der ich da war. In den ersten Wochen nach dem sechsten Spieltag gab es zunächst eine sehr intensive Kennenlernphase mit einem echten Aha-Erlebnis.

Nämlich?

Die brutale 0:3-Heimniederlage gegen Frankfurt am achten Spieltag hat am meisten wehgetan – war aber gleichzeitig das wertvollste Spiel für unsere Gesamtentwicklung. Uns wurden schonungslos Dinge aufgedeckt, die ein „normales“ 0:1 nicht preisgibt.

Haben Sie eine Lieblingsgrundordnung?

Natürlich wollen wir variabel sein, aber ich bin fest davon überzeugt, dass jede Mannschaft eine Basis-Grundordnung braucht. Das heutige 4-2-3-1 ist eine sehr gute Basis, wobei sich auch immer mehr die Dreierkette durchsetzt.

Nach Ihrem ersten Spiel gegen Berlin (0:2) hatten Sie gesagt, dass Sie besonders gern mit zwei Spitzen spielen.

Das ist kein Widerspruch. Aus dem 4-2-3-1 kann man sehr gut den offensiven Mittelfeldmann zum Stürmer machen. Für mich sind das identische Systeme.

Es gibt den schönen Satz: Besser gut geklaut als schlecht selbst gemacht. Lassen Sie sich taktisch gern beeinflussen?

Natürlich versuche ich mir bei den Besten etwas abzuschauen. Aber grundsätzlich verlasse ich mich lieber auf meine eigenen Ideen.

Wie schaut man etwas ab? Dienstag, 20.45 Uhr, Champions League auf dem Sofa?

Klar. Aber ich gucke mir auch gern Videos von Spielen an. Am meisten habe ich mich in meiner arbeitsfreien Zeit inspirieren lassen, als ich bei anderen Vereinen und in andere Sportarten reingeschnuppert habe.

Seinerzeit haben Sie bei Atlético Madrid hospitiert. Sie gelten als großer Verfechter des Offensivfußballs, andererseits aber als Bewunderer von Atléticos Defensivfußball. Wie passt das zusammen?

Das ist ja genau die Krux, dass man glaubt, dass es tatsächlich ausschließlich gute Offensiv- und Defensivmannschaften gibt. Keine Offensivmannschaft der Welt, die erfolgreich ist, ist in der Defensive schlecht. Der FC Barcelona in seiner Glanzzeit ist so ein Beispiel. Jeder hat von ihrem Ballbesitzfußball geschwärmt. Dass aber Barcelona wie kein anderes Team der Welt gegen den Ball verteidigen konnte, wurde kaum erwähnt. Die waren aber so gut, dass der Gegner, wenn er denn mal den Ball hatte, ihn nach spätestens drei Sekunden wieder abgeben musste. Dieses Gegenpressing von Barcelona war ein Genuss.

Sie schwärmen ja regelrecht.

Weil diese Art des Verteidigens die hohe Kunst des Fußballs ist. Es geht nicht darum, sich zurückzuziehen und auf die Angriffe des Gegners zu warten. Es geht darum, den Gegner so unter Druck zu setzen, dass man mit der eigenen Verteidigung die Offensive vorbereitet.

Gibt es einen Trainer, den Sie bewundern?

Bewundern ist übertrieben. Ich habe mich in meiner Pause zu einem intensiven Austausch mit Ottmar Hitzfeld getroffen. Ich fand es schon immer beeindruckend, wie er mit seinen Mannschaften umgegangen ist. Darüber haben wir uns in aller Ruhe bei ihm zu Hause unterhalten. Ich finde, dass Ottmar Hitzfeld ein besonderer Trainer war.

Das sind Sie laut Klaus-Michael Kühne auch. Nach dessen Lobpreisung wurden Sie sogar als mächtigster HSV-Trainer aller Zeiten bezeichnet.

Mich freut, dass Herr Kühne mir Vertrauen entgegenbringt. Ich durfte ihn kennenlernen und schätze seine Art und seine Leidenschaft für den HSV sehr. Ich beziehe sein Vertrauen nicht vorrangig auf mich. Herr Kühne wünscht sich einen erfolgreichen HSV, und er wünscht sich Perspektive, Kontinuität und in gewisser Weise auch Berechenbarkeit. Auf diesen Weg einzubiegen und darauf zu bleiben, das liegt zu einem großen Teil in unserer Hand.

Heribert Bruchhagen und Jens Todt müssen sich also keine Sorgen über einen allmächtigen Trainer Gisdol machen?

Es gibt so viele Herausforderungen in diesem Club, die kann niemand allein bewältigen. Meine Aufgabe als Cheftrainer bringt reichlich Verantwortung mit sich. Deswegen gibt es mir ein gutes Gefühl, dass auch abseits des Rasens wieder alle Positionen professionell besetzt sind und wir die Kräfte bündeln können.

Bruchhagens und Todts Kollegen haben sieben Trainer in der Hinrunde entlassen. Ist das noch normal?

Das Geschäft ist überhitzt – das kann man jetzt auch im aktuellen Transferfenster beobachten. Manchmal fragt man sich schon, wo das alles enden soll. Langfristiges Planen ist so nicht möglich. Ich halte das für eine sehr gefährliche Entwicklung. Als Trainer ist man heute hier, morgen da. Manche können das vielleicht, für mich ist das schwer vorstellbar. Ich könnte mich nicht mit meiner ganzen Leidenschaft auf den HSV konzentrieren – und morgen einen anderen Verein übernehmen. Auch als Trainer sollte man mal durchpusten.

Wann haben Sie zuletzt ganz entspannt ein Fußballspiel genossen?

Wenn ich ehrlich bin, dann kann ich kein Fußballspiel mehr einfach nur so als Zuschauer genießen. Ich schaue jedes Spiel mit den Augen eines Trainers. Ich achte darauf, was meine Kollegen machen, wie sie aufstellen, wie sie reagieren. Bei jedem Wechsel überlege ich mir, was ich an ihrer Stelle getan hätte.

Das klingt nach einem hohen Preis.

Als Kind war ich einfach nur Fan, habe Spiele und Spieler genossen und bewundert. Diese Fan-Begeisterung geht leider im Profialltag verloren. Das ist natürlich schade, aber wenn wir es so nennen wollen, zahle ich diesen Preis gern.