Hamburg. Handball-Bundestrainer Michael Biegler über den Umgang mit seinen „Ladys“, das Projekt Heim-WM 2017 und seine Zeit beim HSV

Am kommenden Freitag wird sich Michael Biegler (55) schon um 4 Uhr morgens von Aschersleben auf den Weg nach Hamburg machen. Spätestens um 8.30 Uhr muss der Handball-Bundestrainer der Frauen an der Grundschule Wielandstraße sein, um zusammen mit Landestrainer Adrian Wagner im Rahmen der Aktion „AOK-Star-Training“ eine zweistündige Einheit für die Kinder anzuleiten. Es wird ein langer Arbeitstag: Am Abend (19 Uhr) steht für seine Nationalmannschaft in der Inselparkhalle ein Länderspiel gegen Spanien an. Spätestens im Dezember 2017 will Biegler nach Hamburg zurückkehren: Dann wird in der Barclaycard-Arena die Finalrunde der Heim-WM ausgespielt.

Herr Biegler, vor neun Monaten beendeten die Insolvenz und der Lizenzentzug Ihr kurzes Engagement als Trainer des HSV. Was empfinden Sie, wenn Sie nach Hamburg kommen?

Michael Biegler: Es war eine extrem tolle Zeit, von der ich keine Minute missen möchte. Die Halle war für mich die schönste der Bundesliga. Alle wollen da einmal im Jahr zum Pokal-Final-Four hin. Leider durfte ich dort nur so wenige Spiele machen. Umso mehr will ich, dass die Ladys bei der WM 2017 dieses besondere Flair einmal erleben.

Christian Fitzek, der damals HSV-Geschäftsführer war, sagte, er bedaure am meisten, dass die Entwicklung Ihrer Mannschaft nicht weitergehen konnte. Als das Aus kam, war sie Tabellenvierter und hatte sieben Spiele nacheinander gewonnen.

Ja, aber ich bin ein sehr faktischer Mensch und fange sicher nicht an zu sinnieren, wo wir hätten landen können. Ich bin zu lange dabei, als dass mich das belasten könnte.

Nur einen Monat später waren Sie auch Ihren zweiten Job als polnischer Nationaltrainer los, als Sie nach dem Verpassen des Halbfinales bei der EM im eigenen Land zurücktraten. Warum haben Sie sich wieder für eine Nationalmannschaft und nicht für einen Verein entschieden?

Die Kürze und Intensität des Projekts waren für mich extrem reizvoll. Das war damals beim HSV ähnlich: Es ging darum, in einer veränderten Situation Strukturen aufzubauen, neue Trainingsinhalte und eine neue Spielphilosophie zu etablieren. Ich hatte noch während der EM zwei Anfragen aus der Bundesliga. Aber das war kein Projekt, das mit dem HSV vergleichbar gewesen wäre. Hinzu kommt: Die Tochter meiner Frau geht jetzt in die zweite Klasse. Ich wollte zu Hause mehr Präsenz zeigen. Auch meine Vorträge für den Weltverband IHF lassen sich besser vereinbaren.

Ist dieses Projekt nach der WM 2017 für Sie definitiv schon wieder beendet?

Ja! Mich zu verpflichten war ohnehin ein sehr mutiger Schritt des Deutschen Handball-Bundes. Zudem bin ich der Ansicht, dass wir rund um die Mannschaft mehr weibliche Präsenz brauchen – auch auf der Trainerposition. Irgendwo lebe ich nicht mit dieser Mannschaft. Sie ist in der ersten Etage, ich in der vierten. Ich sehe sie bei Mahlzeiten, bei Einzelgesprächen, bei Teammeetings und im Training. Zu einer Männermannschaft habe ich mehr Nähe, da bin ich in der Kabine, da bekomme ich ganz andere Einblicke und Informationen.

Wie haben Sie sich in Ihr neues Aufgabenfeld eingearbeitet?

Zwei Spiele pro Spieltag zu besuchen ist für mich ein Muss. Die Präsenz auch im Vereinstraining ist wichtig, weil ich die Zusammenhänge verstehen will. Ich habe auch schon auf Wunsch eines Bundesligisten dort ein Training geleitet. Die Trainerkollegen wollten sehen, wie meine Herangehensweise ist. Es reicht nicht, nur von einem Projekt zu reden, man muss es auch vorleben.

DHB-Vizepräsident Bob Hanning hat im Zusammenhang mit der WM von einer „letzten Chance“ für den Frauenhandball gesprochen. Wenn das nicht funktioniere, könne man „die Tür abschließen“.

Ich sehe das anders. Mir nötigt die Aufgabe extrem hohen Respekt ab. Ich hatte in meiner mehr als 30-jährigen Trainerlaufbahn viel mit jungen Menschen zu tun, denen schwer beizubringen war, auch an ihr Leben nach dem Handball zu denken. Das ist hier nicht nötig, im Gegenteil: Sportdirektor Wolfgang Sommerfeld und ich versuchen vielmehr, mit Arbeitgebern zu sprechen, um die bestmöglichen Voraussetzungen für die Spielerinnen zu schaffen. Es geht uns nicht nur darum, bei der WM ein Ergebnis zu erzielen. Auch der Weg dorthin ist ein Ziel. Wir sollten diese Zeit nutzen.

Wie weit sind Sie schon vorangekommen?

Bei meiner Bundesligastation in Großwallstadt hat es vier Wochen gedauert, bis ich sagen konnte: Das war ein Abschlusstraining, wie ich es mir vorstelle. Bei den Ladys war das schon vor dem ersten Spiel auf den Punkt. Da klappt alles, ich bin total begeistert. Alle sehr fokussiert, aufnahmefähig, ansprechbar. Das macht eine Menge Laune. Bei der ersten Besprechung haben die Spielerinnen sogar mitgeschrieben. Das kannte ich gar nicht. Die Ladys finden da ihren eigenen Weg. Und ich mache kein anderes Training als die 32 Jahre zuvor.

Muss die Ansprache bei einem Frauenteam nicht eine andere sein?

Es gibt vielleicht die eine oder andere Formulierung, die man im Training mit den Jungs von sich gibt, die ich mir verkneife. Aber letztlich muss ich authentisch bleiben. Und noch ist im Training keine weggelaufen. Ich finde, wir sollten die Differenzierungswut zügeln. Wenn ich in der Leichtathletik mitfiebere, mache ich doch auch keinen Unterschied, ob da Männer Diskus werfen oder Frauen Speer. Es gibt Unterschiede in der Athletik oder der Dynamik, aber deswegen ist es nicht weniger reizvoll.

Die Nationalmannschaft ist seit 2008, als sie EM-Vierte wurde, bei keinem großen Turnier mehr unter die besten sechs vorgestoßen. Ist der deutsche Frauenhandball konkurrenzfähig?

Ich glaube schon, dass wir genügend gute Spielerinnen haben, auch im Nachwuchs. Wir müssen sie so zusammenführen, dass wir auch erfolgreich sind. Ja, in Skandinavien sind die Spielerinnen Profis und bei uns nicht. Na und? Interessiert mich gar nicht. Wir müssen Lösungen schaffen für die Ladys.

Ist die duale Karriere also gar kein Wettbewerbsnachteil?

Natürlich ist das belastend, weil es dadurch schwer ist, einen Rhythmus zu finden. Die eine Spielerin macht ihr Krafttraining vor dem Frühstück, die andere in der Mittagspause. Meine Aufgabe ist, ein Periodisierungsmodell aufzubauen und die Trainingswoche so zu gestalten, dass wir optimal vorbereitet sind. Das ist für mich der Schlüssel, um nicht nur einzelne gute Spiele zu haben, sondern das Niveau über die Dauer eines Turniers hochzuhalten.

Und spielerisch?

Wir sollten nicht kopflos jedem Trend hinterherlaufen und zum Beispiel auf Teufel komm raus versuchen, Tempohandball zu spielen. Hier stoßen wir strukturell an Grenzen. Wenn ich mich zweimal am Tag allein aufs Training fokussieren kann, kann ich eine andere Qualität abrufen. Wir sollten vielmehr versuchen, uns unserer Stärken zu besinnen. Auf der Torhüterposition sind wir annähernd Weltklasse. Das müssen wir nutzen. Unsere Schwächen liegen im Zusammenspiel, in der Organisation. Da können wir uns weiterentwickeln.

Trotzdem haben Sie die WM-Toptorjägerin Susann Müller nicht nominiert.

Sie hat im Angriff Fähigkeiten, die dieser Mannschaft extrem weiterhelfen würden. Aber bei diesem Projekt spielen viele Faktoren hinein. Wir haben keine Zeit, nach hinten zu gucken und alte Geschichten aufzuwärmen. Wir haben von den Spielerinnen verlangt, den Resetknopf zu drücken und Vergangenes beiseite zu schieben. Von Susann Müller habe ich bislang nicht wie von den anderen das Signal empfangen, dass sie bereit dazu ist. Aber klar ist auch: Sie ist nicht raus aus dem Kader.

Es gibt neue Regeln, die siebte Feldspielerin scheint im Trend zu liegen. Auch bei Ihnen?

Ich bin ein strikter Gegner davon und kann nur davor warnen. Das Spiel wird durch die ständige Überzahl nicht attraktiver, sondern statischer. Hinzu kommt, dass sich das Torwartspiel strukturell verändert. Wo ist die Phase, in der sich eine Torhüterin mit dem Spiel beschäftigen kann? Für sie ist es eine einzige Hatz zwischen Bank und Tor. Unser Regelwerk ist schon kompliziert genug, wir überfordern damit auf Dauer die Zuschauer. Sie verstehen das Spiel nicht mehr.