Hamburg. Vor 25 Jahren gewann Michael Stich das Turnier in Wimbledon. Das Finale gegen Boris Becker hat er sich danach nie mehr angeschaut

In voller Länge hat er das Match, das ihn zum größten Erfolg seiner Karriere führte, nie gesehen, obwohl sein Vater Detlef es mit dem eigenen Camcorder aufgezeichnet hat. „Ich weiß nicht, was mit der Kassette passiert ist. Außerdem will man sich in meinem Alter doch gar nicht als jungen Mann sehen. Ich mit dieser komischen Prinz-Eisenherz-Frisur damals“, sagt Michael Stich (47). Und wer ihn kennt, der wundert sich darüber nicht, denn die Vergangenheit zu verklären oder sich im eigenen Licht zu sonnen, das war nie die Sache des Mannes, der am 7. Juli 1991 die Hierarchie im deutschen Herrentennis durcheinanderwirbelte.

Im Endspiel der All England Championships in Wimbledon, dem bedeutendsten Tennisturnier der Welt, stand ihm vor 25 Jahren der Mann gegenüber, der den Centre-Court an der Church Road als sein „Wohnzimmer“ bezeichnete. Boris Becker wollte seinen vierten Wimbledon-Titel. Doch am Ende war es Stich, der nach einem Vorhandreturn mit einem spitzen Schrei in die Knie ging und die Arme gen Himmel riss. 6:4, 7:6 (7:4), 6:4 lautete das Endergebnis, das aus dem damals 22-Jährigen auf einen Schlag einen Star machte.

„Dass ich überhaupt im Finale stand, war Überraschung genug“, sagt er, „denn eigentlich war ich schon im Achtelfinale ausgeschieden.“ Fünf Sätze lang musste er sich gegen den Russen Alexander Wolkow quälen. „Alles, was dann kam, habe ich als Bonus betrachtet“, sagt Stich. Das Viertelfinale gegen Jim Courier (USA), das er 6:3, 7:6 (7:2), 6:2 gewann, sei sein bestes Turniermatch gewesen; das Halbfinale gegen den Schweden Stefan Edberg, das er nach 4:6 im ersten Satz dreimal mit 7:6 im Tiebreak für sich entschied, das intensivste.

Das wichtigste Match aber, das den Verlauf seiner Karriere prägen sollte, war das gegen Becker. Besondere Brisanz habe er dem deutschen Duell nicht beigemessen. „Es war für mich irrelevant, wer mein Finalgegner war. Ich war mir sicher, dass ich gewinnen würde“, sagt Stich. Dann spürt er den Worten kurz nach, um zu überprüfen, ob sie zu selbstherrlich klingen. „Nein“, sagt er, „es war einfach so. Schon beim Einspielen mit meinem Coach Mark Lewis, das als Ritual immer auf Kleinfeld stattfand, habe ich mich super gefühlt.“

In der Umkleidekabine, die es auf der umgestalteten Anlage heute so nicht mehr gibt, tummelten sich zum Start der ersten Turnierwoche bis zu 200 Spieler und Trainer. „Am Finalsonntag waren da nur noch sechs Leute. Eddy, der Mann, der uns Spielern die Taschen trug, weil wir uns vor der königlichen Loge verbeugen mussten. Boris, sein Coach und sein Physio. Und Mark und ich. Da wurde mir die Besonderheit der Situation bewusst.“ Er habe Becker kurz begrüßt, mehr Kontakt gab es nicht, obwohl die Rivalität der beiden damals noch nicht entbrannt war. „Boris hat mich nicht als Konkurrenten wahrgenommen. Erst nach Wimbledon haben wir uns den Fehdehandschuh, den uns die Medien hingehalten haben, angezogen. Aber eigentlich war es mit ihm immer ganz nett“, sagt Stich.

Vom Matchverlauf weiß er nicht mehr allzu viel, nur der Matchball ist ihm präsent geblieben. „Und mit 22 hatte man nicht das Bewusstsein dafür, etwas Großes erreicht zu haben. Kein Spieler denkt im Spiel darüber nach, Geschichte zu schreiben. Die Bedeutung dieses Titels, der mein gesamtes Leben beeinflusst hat, habe ich erst realisiert, als ich mit Tennis aufgehört hatte.“

Für das Champions Dinner musste Stich einen Smoking tragen – den er natürlich nicht im Gepäck hatte. „Das war Pflicht. Meine Mutter hat einen organisiert, am Ende war mein 2011 viel zu früh verstorbener Manager Ken Meyerson der Einzige, der in einem hellen Anzug beim Essen saß.“ Er erinnert sich jedoch nicht mehr, ob er direkt neben Damensiegerin Steffi Graf speisen durfte.

An eines erinnert er sich dagegen genau. Im Lauf des Abends sollte er dem zu den Gästen zählenden, ältesten lebenden Wimbledonchampion vorgestellt werden. Als man ihm den Franzosen Jean Borotra, der 1924 und 1926 triumphiert hatte, zuführte, fragte der alte Herr nur: „Wer ist das?“, Stich muss lachen, als er sich daran erinnert. „Dass er mich nicht erkannte, obwohl ich gerade das Finale gewonnen hatte, hat mich geerdet.“

Es hätte zu dem schlaksigen Abiturienten, den seine Fans als vernünftig und Kritiker als unterkühlt beschrieben, nicht gepasst, den einzigen Grand-Slam-Titel und wichtigsten der 18 Turniersiege seiner Laufbahn ausschweifend zu feiern. Tatsächlich ging das Preisgeld aufs Konto, „so wie meine Eltern es mir beigebracht hatten. Ich hatte auch nicht den Drang, mich belohnen zu müssen, denn das größte Geschenk hatte ich mir ja mit dem Titelgewinn gemacht.“

Das Motivationsloch, das viele Champions nach dem Erreichen eines großen Ziels schluckt, kam für Stich im Jahr nach dem Wimbledonsieg. „Es fiel mir nicht leicht, immer wieder neu anzugreifen. Nur die wenigsten schaffen es, immer in den wichtigen Momenten ihre Topleistung abzurufen.“ Rückblickend ist Stich froh, den Höhepunkt seiner Laufbahn nicht schon, wie Boris Becker, mit 17 erreicht zu haben. „Ich wäre mit 17 gar nicht bereit dazu gewesen. Für mich war es unheimlich wichtig, in Ruhe reifen und meinen Weg gehen zu können.“ Umso höher sei der Respekt vor Becker, den er bei aller Rivalität stets geschätzt habe. „Wir wussten immer anzuerkennen, was der andere leistete, und dass wir gewisse Ziele nur gemeinsam erreichen konnten.“ 1992 beim Olympiasieg im Doppel in Barcelona bewiesen sie das.

Dass er seine Laufbahn 1997 nach chronischen Verletzungsproblemen an Schulter und Knien an der Stätte seines größten Triumphes beendete, schließt den Kreis. Geplant war das nicht. Doch nachdem er im Halbfinale in einem Fünfsatzmatch am Franzosen Cedric Pioline gescheitert war, reifte in Stich der Entschluss abzutreten. „Ich wollte in einem Moment aufhören, in dem ich noch in der Lage war, mein bestes Tennis zu spielen. Ein Halbfinale in Wim­bledon erschien mir als würdiger Moment. Es war eine spontane Entscheidung, aber sie war richtig.“

Am 7. Juli bereitet Stich das Rothenbaum-Turnier vor

Die Verbindung nach Wimbledon hat Michael Stich nie gekappt. Er besucht regelmäßig als Gast das Turnier. „Als Champion ist man automatisch Mitglied im All England Lawn Tennis Club. Man bekommt dann einen Button mit seinem Namen drauf, und der öffnet wirklich jede Tür“, sagt er. In diesem Jahr fliegt er mit Geschäftspartnern aus dem Rothenbaum Club nach London, „um ihnen einmal die Chance zu geben, diese überwältigende Atmosphäre erleben zu können.“

2011, zum 20. Jahrestag seines Triumphes, war er mit seiner Familie in London, hatte auch sein Team von damals eingeladen. Man ging essen, schaute Tennis. Diesmal wird er am 7. Juli nichts Besonderes tun, die Vorbereitungen für das Rothenbaum-Turnier, das zwei Tage später mit der Qualifikation beginnt, halten ihn, den Turnierdirektor, davon ab. Und es ist ja auch nicht so, dass ihm das nostalgische Schwelgen wichtig wäre. „Ich bin zwar stolz auf meinen Wimbledonsieg, und ich weiß auch, was er mir ermöglicht hat. Aber er prägt heute nicht mehr mein Leben.“

Den Pokal hat er in seinem Arbeitszimmer stehen, mit einem Dutzend anderer Trophäen. Noch etwas hat er aufbewahrt. Ein Programmheft vom mittleren Turniersonntag, der traditionell spielfrei ist, 1991 aber wegen Regens ein Spieltag war. Signiert ist das Heft von Becker und ihm. Es ist eine Erinnerung, wie Michael Stich sie schätzt. Weil sie so exklusiv ist wie die Memoiren in seinem Gedächtnis.

Die Auslosung für das Wimbledon-Turnier (Beginn Montag) brachte für die Hamburger folgende Lose: Alexander Zverev (Nr. 24) – Mathieu (Frankreich), Carina Witthöft – Begu (Rumänien/Nr. 25). Tobias Kamke hat durch eine 2:6, 7:6, 2:6, 2:6-Niederlage im Qualifikationsfinale gegen den Slowaken Lukas Lacko den Sprung ins Hauptfeld verpasst.Die weiteren Deutschen: Herren: Kohlschreiber (Augsburg/21) – Herbert (Frankreich), Mayer (Bayreuth) – Thiem (Österreich/8), Brown (Winsen/Aller) – Lajovic (Serbien), Becker (Orscholz) – Bagnis (Argentinien), Struff (Warstein) – Evans (Großbritannien). Damen: Kerber (Kiel/4) – Robson (Großbritannien), Petkovic (Darmstadt/32) – Hibino (Japan), Siegemund (Metzingen) – Keys (USA/ 9), Beck (Bonn) – Watson (Großbritannien), Friedsam (Neuwied) – Dijas (Kasachstan), Barthel (Neumünster) – Kovinic (Montenegro), Görges (Bad Oldesloe) – Schwedowa (Kasachstan), Lisicki (Berlin) – Rogers (USA).