Évian-les-Bains. Der Münchner Torhüter hat bei der EM noch kein Gegentor hinnehmen müssen. Mit dem Achtelfinale gegen die Slowakei wächst der Druck auf ihn und das Team. Aber Druck macht Neuer noch besser

Sehr viele Dinge hat es bislang nicht gegeben, die Manuel Neuers Wehrhaftigkeit bei diesem Turnier in Zweifel hätten ziehen können. Aber das hier, das ist etwas völlig anderes. Der Gegner ist nicht zu fassen, er lauert derzeit überall und ist deswegen auch so schwer zu bekämpfen. Der Torhüter der deutschen Fußball-Nationalmannschaft kommt frisch geduscht vom Vormittagstraining, aber da ist etwas, das ihn stört.

Der Regen der vergangenen Tage im französischen Évian-les-Bains, den Neuer verflucht hatte, ist es nicht. In wolkenlosem Blau strahlt der Himmel über dem Genfer See. Doch die Nase ist jetzt plötzlich dicht. „Gegen irgendwas bin ich allergisch. Weil jetzt die Sonne scheint, blüht hier alles“, sagt die Nummer eins, um seine etwas nasale Stimme zu entschuldigen. Heuschnupfen, der zu Luftknappheit führt? Eine Sorge, die nicht angebracht scheint. „Es ist halb so schlimm“, beschwichtigt der gebürtige Gelsenkirchener sofort.

Eine wie auch immer geartete Beeinträchtigung des Schlussmannes wäre gerade zum jetzigen Zeitpunkt eine mittelprächtige Staatsaffäre. Denn am Sonntag (18 Uhr; ZDF) trifft die deutsche Mannschaft in Lille auf die Slowakei. Es handelt sich um das Achtelfinale dieser Europameisterschaft und damit um den Beginn der Phase, in der es entscheidend wird. Die Phase der K.-o.-Spiele. Die Phase, in der eine Unachtsamkeit, ein Fehler, manchmal nur eine winzige Unglücklichkeit selbst einen Weltmeister niederstrecken kann. Die Phase, in der Helden gemacht werden, wenn es sein muss auch im Elfmeterschießen. Torhüter sind dann oft Helden. „In den K.-o.-Begegnungen herrscht eine ganz andere, weit größere Drucksituation. In einem Spiel kann immer alles passieren, du bist vor keiner Überraschung gefeit – im Guten wie im Schlechten. Wir dürfen keinen Gegner auf die leichte Schulter nehmen“, warnt Manuel Neuer, der Mann, der seit drei Jahren als Welttorhüter firmiert. Vom Achtelfinale an herrscht Druck. Druck, der ihn anscheinend noch besser werden lässt. Neuer ist Deutschlands K.-o.-Spieler.

Das ist spätestens seit der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien amtlich. Als dort die entscheidende Turnierphase begann, wankte der hohe Favorit gegen die tapferen Algerier. Neuer war es, der seine vogelwilden Vorderleute vor allerhand Gegentreffern bewahrte, in dem er den Gegenspielern selbst an der Außenlinie den Ball vom Fuß grätschte als sei es das Normalste der Welt. Damals rettete er nicht nur den Sieg, sondern revolutionierte – ganz nebenbei – das Torwartspiel. Überall auf der Welt sahen die Menschen plötzlich, dass Torhüter nicht mehr nur Bälle fangen müssen, sondern ein erheblicher Teil des Spiels sein können.

„Nicht jeder außerhalb Deutschlands kannte bis dahin meine Spielweise. Das war nochmal eine andere Plattform“, erinnert sich Neuer nun an die Partie zurück. Die Weltmesse des Fußballs hatte ein neues Produkt vorzuführen: Manu, den Libero.

Etwaige weitere Trends auf der Linie treten beim kontinentalen Kräftemessen in Frankreich bislang nicht sichtbar zu Tage. Die Torhüter stehen weniger im Fokus als noch bei der Weltmeisterschaft 2014, als vor allem in der Vorrunde die Keeper in Serie grotesk patzten. Neuer, als Souverän seiner Zunft, ist am Freitag gefragt worden, wie er die Leistung seiner Berufskollegen beurteile. Das wirkte als schwebe er weit über allen anderen. Neuer antwortete, dass er eine „gute Qualität“ ausgemacht habe. Einschneidendes hat sich auf der Linie noch nicht getan. Aber die Zeit der Keeper kommt jetzt erst, da Sieger ermittelt werden müssen und ein 0:0 nicht reicht. Viele Mannschaften agierten bisher vor allem defensiv, selbst die deutsche legt größten Wert auf Gegentorlosigkeit. „Die Null muss stehen. Wir haben viel investiert, um sicher zu verteidigen“, sagt Neuer.

Das ist auch daran zu erkennen, dass der deutsche Schlussmann bislang kaum hat eingreifen dürfen oder müssen. Seine letzte ernsthafte Parade bei dieser EM war im ersten Spiel gegen die Ukraine (2:0) zu besichtigen.

Der Profi des FC Bayern München ist bisher in Frankreich als einziger Torwart in drei Spielen ohne Gegentreffer geblieben (der Italiener Gianluigi Buffon spielte nur zweimal). Zählt man Viertelfinale (1:0 gegen Frankreich, Neuer überragend), Halbfinale (7:1 gegen Brasilien) und Finale (1:0 nach Verlängerung gegen Argentinien, Neuer stark) der vergangenen WM dazu, hat der Schlussmann in den vergangenen sechs Turnierspielen nur einen Treffer hinnehmen müssen. Ein enormer Wert.

Einen Titelträger ohne Gegentor im Turnier gab es noch nie. Ob das ein Anreiz ist? „Wir sind keine Rekordjäger. Wir versuchen Ergebnisfußball zu spielen, erfolgreich zu sein. Aber das eine schließt das andere nicht aus“, sagt Neuer und versichert der Konkurrenz fast tröstend: „Wir wissen schon, dass wir noch Tore bekommen können.“

Algerien, das Achtelfinale der WM, hat offenbar etwas ausgelöst. „Das war eine Initialzündung fürs Turnier“, erinnert sich Neuer. Für den Fall, dass der Effekt seine Wirkung verloren hat, gilt es ihn am Sonntag zu erneuern. „Die gleiche Wirkung erhoffe ich mir von einem klaren Sieg“, sagt der 30-Jährige. Er wirkt gelassen und gleichzeitig konzentriert. Bis zu diesem Moment im Turnier seien die Ergebnisse Pflicht gewesen, bilanziert Neuer kühl und blättert den sportlichen Geschäftsbericht seiner Mannschaft mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes aus der Chefetage durch: „Wir sind im Soll. Wir haben gezeigt, dass wir eine Mannschaft sind, die sich auf den Punkt konzentrieren kann. Wir wissen, was jetzt verlangt wird.“ Vor allem sind das Ergebnisse.

Bislang hat Neuer die Mannschaft als Kapitän aufs Feld geführt. Eine Auszeichnung ist das für ihn, das schon. Aber am Ende ist das für ihn nicht entscheidend. Für den Fall, dass Mittelfeldstratege Bastian Schweinsteiger in den kommenden Partien zurückkehrt, wird er also die Armbinde gern weiterreichen an denjenigen, der sie für gewöhnlich trägt. „Ich freue mich natürlich, wenn Basti von Anfang an spielt und wenn er uns helfen kann. Das ist die Entscheidung des Bundestrainers. Ich bin absolut bereit, die Binde sofort abzugeben.“ In diesem Fall wird Manuel Neuer wieder lediglich das tun, was er besser kann als alle anderen auf der Welt: Bälle halten und gegnerische Angriffe abwehren. Das scheint zumindest für ihn deutlich einfacher zu sein als sich gegen diese kleinen lästigen Pollen zu wehren.