Gelsenkirchen. Boateng und Rüdiger wuchsen beide in der Hauptstadt auf. Beim EM-Auftakt könnten sie Deutschlands Innenverteidigung bilden.

Antonio Rüdiger war Stürmer. Bis zur B-Jugend spielte er vorn. Erst danach rückte der heute 23-Jährige nach hinten ins Abwehrzentrum. Gute Gründe dafür fand man am Sonnabend beim Test der deutschen Nationalelf gegen Ungarn, dem letzten vor der EM: Da vergab Rüdiger frei eine perfekte Kopfballchance. Für das Team von Joachim Löw hätte der Sieg also höher als 2:0 ausfallen können. Später zog Rüdiger seinen Koffer und ein grimmiges Gesicht durch die Interviewzone der Schalker Arena: „Den Ball muss ich reinmachen“, sagte er. „Jetzt weiß ich, woran ich in den nächsten Wochen arbeiten muss.“

Damals, zu Stürmerzeiten, sei Ronaldo sein großes Vorbild gewesen, hat Rüdiger mal erzählt. Aber als er dann mit 15 vom Berliner Stadtteilclub Hertha Zehlendorf in den Nachwuchs von Borussia Dortmund wechselte und seine wahre Bestimmung als Verteidiger fand, hätten ihn vor allem die Abwehrrecken fasziniert. Sein großes Leitbild seither: Jerome Boateng – ein Spieler, der den Weg aus Berlin auf die große Bühne bereits geschafft hatte und einer, der Rüdigers Karriere mitbedingen sollte.

Am Sonnabend ist Rüdiger seinem Vorbild ziemlich nahe gekommen. Gute zehn Meter rechts stand Boateng neben ihm. Gemeinsam bildeten sie die Innenverteidigung der Nationalelf. Rüdiger zeigte, dass seine Versetzung aus dem Sturm damals nicht verkehrt war. Denn es gelang, was ein Jahr lang nicht zu schaffen gewesen war: Der Weltmeister beendete ein Spiel ohne Gegentor. Zuletzt klappte das beim 7:0 gegen Gibraltar. Nach acht Partien mit 14 Gegentreffern hielt die Defensive. Damit nach Frankreich zu fahren, sei ein gutes Gefühl, sagte Löw. Darin schwang die Zufriedenheit eines Mannes mit, der zumindest die Lösung für eines von mehreren Problemen bis zum Turnier gefunden hat. Wer den angeschlagenen Mats Hummels beim EM-Auftakt gegen die Ukraine ersetzen soll? Antonio Rüdiger.

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    Dass Boateng zum festen Bestandteil der deutschen Elf gehört, überrascht nur Rechtspopulisten. Gegen Ungarn war der 27-Jährige mit über 100 Pässen der aktivste Spieler. Sensationelle 93 Prozent kamen an – darunter Diagonalbälle wie vor dem 2:0. Dass aber in Boatengs Nachbarschaft nun plötzlich Rüdiger auftaucht, war noch vor einiger Zeit eher nicht zu erwarten. Doch in den vergangenen vier Tests stand der Verteidiger immer die vollen 90 Minuten auf dem Rasen – mal im Abwehrzentrum, mal als rechtes Glied einer Dreierkette. Weil er sich im internen Duell um die Vertretungsstelle für Hummels gegen Shkodran Mustafi durchgesetzt hat, geht die Nationalelf nun erstmals in ihrer Geschichte mit einem Abwehrzentrum aus zwei Berlinern in ein Turnier. Das müsse natürlich der Trainer entscheiden, sagte Rüdiger artig. „Aber die Chancen stehen gut, glaube ich.“ Löw vertraut ihm, weil sein Weg dem von Boateng immer ähnlicher wird.

    Beide hatten auch dieselben Startschwierigkeiten

    Rüdiger und Boateng sind beide in Berlin aufgewachsen. Der eine in Neukölln zu einer Zeit, als sich dort noch mehr Gangster als Hippster rumtrieben, der andere im gediegenen Charlottenburg. Beide debütierten mit 19 in der Bundesliga: Rüdiger für Stuttgart, Boateng für Hertha. Als Löw den Stuttgarter 2014 zum ersten Mal nominierte, nannte er Rüdiger „einen kleinen Boateng“, der lediglich ein wenig reifen müsse. Nicht nur für sich, sondern auch für die Öffentlichkeit war Boateng stets Rüdigers Vergleichsgröße.

    Aber beide hatten auch dieselben Startschwierigkeiten. Obwohl sie sich als Innenverteidiger sahen, mussten Boateng und Rüdiger zunächst auf außen ausweichen. Bruno Labbadia schulte Boateng in seiner ersten Zeit beim HSV 2009 zum Innenverteidiger um. Auch Rüdiger spielte in Stuttgart unter Labbadia zunächst rechts, ehe ihn der Trainer ins Zentrum stellte.

    Bruno Labbadia (l.) machte aus Jerome
Boateng einen Innenverteidiger
    Bruno Labbadia (l.) machte aus Jerome Boateng einen Innenverteidiger © Witters

    Aber damit noch nicht genug der Parallelen: Boateng und Rüdiger haftete früh der Makel an, zwar eine enorme Physis zu besitzen, aber keine Ahnung, wie man sie richtig einsetzt. Bei Boateng war es Phlegma, bei Rüdiger Hitzköpfigkeit. Beide waren stets für Fauxpas gut. Aber beide fanden, wie die Jugend der Welt das häufig tut, bei einem Auslandsaufenthalt zu sich: Boateng bei Manchester City, von wo aus er 2011 zu den Bayern wechselte, um dort ein Weltklasseverteidiger zu werden, Rüdiger seit einem Jahr beim AS Rom.

    „Toni ist in Italien enorm gereift“, sagte Löw. „Ihm tut die italienische Schule gut, die ja verstärkt auf die Defensive setzt.“ Mit Rom wurde Rüdiger Dritter, spielte 30-mal in der Liga und in der Champions League bis zum Achtelfinale. Nun ist er bei der Nationalelf erster Hummels-Vertreter und sagte am Sonnabend: „Ich habe nie an mir gezweifelt. Auch durch alle Kritik habe ich mich nie unterkriegen lassen.“

    Ob Rüdiger auch nächstes Jahr in Rom spielen wird, ist ungewiss. Zwar zogen die Italiener die Kaufoption (neun Millionen Euro), doch die noch größeren Clubs wie Chelsea und Paris Saint-Germain sollen an ihm interessiert sein. Denn aus dem „kleinen Boateng“ könnte ja ein ähnlich großer Verteidiger werden. In der deutschen Nationalelf darf er zumindest an dessen Seite auflaufen – als Berliner Mauer in Frankreich.

    Deutschland: Neuer (30 Jahre/65 Länderspiele) – Höwedes (28/34), Boateng (27/59), Rüdiger (23/11), Hector (26/14) ab 46. Can (22/6) – Khedira (29/60) ab 46. Gomez (30/64), Kroos (26/65) ab 68. Schweinsteiger (31/115) – Müller (26/71), Özil (27/73), Draxler (22/19) ab 60. Schürrle (25/52) – Götze (24/52) ab 79. Podolski (31/128). Trainer: Löw.

    Ungarn: Kiraly (40 Jahre/103 Länderspiele) – Fiola (26/15) ab 82. Bese (22/1), Guzmics (29/14), Lang (23/11), Kadar (26/30) – Pinter (27/21) ab 59. Gera (37/88), Nagy (20/8) – Dzsudzsak (29/78), Kleinheisler (22/5) ab 82. Stieber (27/12), Lovrencsics (27/12) – Szalai (28/32) ab 64. Minute Priskin (29/55). Trainer: Storck.

    Schiedsrichter: Martin Strömbergsson (Schweden).

    Tore: 1:0 Lang (39., Eigentor), 2:0 Müller (63.).

    Zuschauer: 52.104.

    Beste Spieler: Boateng, Draxler, Götze – Kiraly, Lovrencsics.

    Gelbe Karten: Kroos – Kleinheisler, Gera.