Berlin.

Der Strick baumelte her­unter. Ein Fan hielt ihn in den Händen, als die Spieler von Hannover 96 mit hängenden Köpfen nach dem 0:2 gegen Köln, das wohl ihren Abstieg besiegelte, vor die Nordkurve traten. „Wir schlitzen euch auf“, brüllte es ihnen entgegen. Und dann dieser Galgen.

Die gelbe Wand begann zu singen, vor ihr standen die Spieler von Borussia Dortmund, manche mit feuchten Augen und Kloß im Hals. Andacht vor der Südtribüne. Ein Mann, 79 Jahre alt, einer aus ihrer Fanmitte, war mit einem Herzinfarkt vor dem Anpfiff gegen Mainz zusammengebrochen und verstorben. Ein anderer, 55 Jahre alt, Herzinfarkt im Block nebenan, überlebte. Ein ganzes Stadion sang „You’ll never walk alone“, auch die Mainzer Anhänger und Spieler, dass es einem die Armhaare aufstellte. „Wie die Fans die Würde in den Vordergrund gestellt haben, ihre Menschlichkeit. Wie sie dann ihre Trauer zelebriert haben, das habe ich noch nicht erlebt. Das ist unsagbar schön“, sagte später BVB- und Ligapräsident Reinhard Rauball.

Das sind die Gegensätze: Anhänger, die sich mit dem Finger über den Hals fahren und symbolisch Köpfe abschneiden. Und Anhänger, die Clubschals hochhalten, aber über Vereinsgrenzen hinweg Mitgefühl zeigen. Beides an einem Wochenende in der Bundesliga.

Neulich in Hamburg schickten sie mehr als hundert für Prügeleien ausgerüstete Hertha-Fans zurück. Vier Tage zuvor brüllten frustrierte Frankfurter Anhänger ihrer Elf beim 0:2 in Berlin entgegen: „Wenn wir wollen, schlagen wir euch tot.“ Und am anderen Ende Darmstadt: Da trauerten Team und Publikum um den an Krebs verstorbenen Jonathan Heimes, einen Fan, der mit seiner Kämpfernatur zum Vorbild wurde. Im Auswärtsblock hielten die mitgereisten Augsburger ein Plakat hoch: „Ruhe in Frieden, Johnny!“ Gemeinschaftliche Trauer verband auch hier beide Seiten.

Der Fußballfan ist neben dem Protestwähler die vielleicht kontroverseste Spezies der Republik. Das liegt einerseits daran, dass er so wenig verstanden wird, aber auch daran, dass er sich vornehmlich über Emotionen Gehör verschafft: positive oder negative. Obwohl bundesweit die Straftaten in den Stadien seit Jahren rückläufig sind, hat der Fußballfan einen schlechten Ruf. Ein saufender, grölender, gewaltbereiter Idiot sei er, der nicht begreifen will, dass das Abbrennen von mehreren Tausend Grad heißen Leuchtfeuern inmitten einer Menschenmasse verflucht gefährlich ist. Die Bilder aus Hannover und die Nachrichten aus Hamburg geben dem Nahrung.

Die Bilder aus Dortmund und Darmstadt dagegen beweisen, dass es auch ganz anders geht. Sie zeigen, dass der Fußball tatsächlich eine Familie sein kann – und das nicht im mafiösen Sinn, an den bisweilen manche Hooligan-Gruppierungen erinnern. Der Fußball kann – wenn manchmal auch nur für einen Stadionbesuch – Halt geben, er kann trotz unterschiedlicher Vereinsfarben die Gemeinsamkeit hervorheben. Der Fußballfan kann darin selbst zum Vorbild für Menschlichkeit werden.

Rauball: „Das nötigt mir einen unfassbaren Respekt ab. Wir haben nicht immer nur Freude mit den Fans. Aber das zeigt, wie tief verwurzelt Begriffe wie Ehre und Respekt vor anderen sind.“ Wahrscheinlich wird am nächsten Wochenende wieder irgendwo ein Bierbecher auf einen Spieler geworfen. Oder junge Männer schlagen sich ins Gesicht, wie neulich Hertha- und Frankfurt-Fans vor dem Spiel in Berlin. Der Fußballfan wird ein unverständlicher Bursche bleiben. Aber es ist schön zu wissen, dass es ihn auch anders gibt.