Oberhausen. Der Punktsieg gegen Fedor Tschudinow war heftig umstritten. Felix Sturm kritisierte nach seinem Rekordsieg einen populären Ex-Boxer.

Man musste sich vorkommen wie auf dem Viehmarkt, wo um die beste Kuh im Stall geschachert wird. Von links rief Fedor Tschudinows russischer Manager in Landessprache sein Angebot durch den stickigen Presseraum der König-Pilsener-Arena, Felix Sturm möge zu einem dritten Kampf in Moskau antreten. Eine Dolmetscherin versuchte, den Wortschwall ins Englische zu übersetzen. Sturm antwortete zunächst in englischer Sprache, er würde gern in der russischen Hauptstadt kämpfen, wenn der Preis stimme, wechselte dann ins Deutsche, bis sich sein Trainer Magomed Schaburow und Tschudinows Team einmischten und die Kakophonie perfekt war.

Nur durchblicken tat niemand, bis Sturm irgendwann vorschlug, auf der After-Show-Party gemeinsam etwas zu trinken und das Ganze auf sich beruhen zu lassen. „Jeder hat seine Meinung, wir könnten tagelang diskutieren, ohne uns einig zu werden“, sagte er. Willkommen also wieder einmal auf der großen Bühne des bisweilen absurden Theaters, das sich Profiboxen nennt.

Aufgeführt wurde in der Nacht zu Sonntag in Oberhausen der zweite Teil des Duells zweier Supermittelgewichtler, die um die Krone des Weltverbands WBA, viel mehr aber darum streiten, wer von beiden nun der Bessere sei. Im ersten Vergleich hatte sich der 28 Jahre alte Russe im Mai 2015 zwar eindeutig nach Punkten durchgesetzt, weil aber ein Punktrichter aus unerfindlichen Gründen Sturm vorn gesehen hatte, war von der WBA ein Rückkampf angeordnet worden. Und um es vorwegzunehmen: Auch diesmal lag Tschudinow vorn. Nicht so deutlich zwar wie im ersten Kampf, aber doch so klar, dass man sich wundern musste, wieso zwei Punktrichter am Ende ein 115:113 für den Herausforderer zusammenrechnen und damit den dritten Kollegen, der 114:114 gewertet hatte, mit einem Mehrheitsentscheid für Sturm überstimmen konnten.

Weltmeister Felix Sturm mit seinem Sohn Mahir
Weltmeister Felix Sturm mit seinem Sohn Mahir © dpa | Roland Weihrauch

Man kann in die Gestik von Boxern nach einem Gefecht viel hineindeuteln. Aber wer sah, wie Sturm sich vor der Urteilsverkündung in allen vier Ringecken auf die Seile schwang und den 10.000 Fans dankte, der musste das Gefühl bekommen, dass sich dort einer verabschiedete, der nicht damit rechnete, auch nach dem Urteil noch der strahlende Sieger sein zu dürfen.

Tschudinow unterstützt eine umstrittene Rockergruppe

Und als sich Sturm mit einer Verbeugung bei Tschudinow bedankte, da wirkte er wie einer, der mehr bezeugt als nur Respekt für einen bravourösen Kampf. Ein solcher war es allemal gewesen, von beiden Athleten. Sturm war es im Vergleich zum ersten Duell gelungen, häufiger aus der Distanz zu boxen und sich nicht im Infight auf einen Schlagabtausch einzulassen. Er bewegte sich geschmeidiger und brachte mehr Schlagserien zu Kopf und Körper ins Ziel.

Dennoch blieb Tschudinow derjenige, der das Tempo des Kampfes kontrollierte und deutlich mehr Treffer setzte, auch wenn Sturm die vielen roten Flecken und Beulen in seinem Gesicht als Folge von Kopfstößen abtat. In seiner Lederkutte, die ihn als Unterstützer der umstrittenen Rockergruppe „Nachtwölfe“ ausweist, mag der bis dato in 14 Kämpfen unbesiegte Tschudinow wirken wie ein Konfirmand in Papas etwas zu großem Anzug. Aber seine Fähigkeit, über zwölf Runden im selben Rhythmus zu boxen und dabei die Genauigkeit in seinen Schlagserien nicht einzubüßen, macht ihn zu einem zukünftigen Champion.

Axel Schulz hatte Niederlage vorhergesagt

Dass er es in der Gegenwart nicht ist, konnte er nicht verstehen. „Ich finde das Urteil nicht fair. Ich habe nicht verloren, respektiere aber die Leistung, die Felix gebracht hat“, sagte er. Es wäre nach der Energieleistung, die Felix Sturm zu zeigen imstande war, sicherlich unfair, ihm nicht den Respekt zu erweisen, den er zweifellos verdient. Durch den 40. Sieg in seinem 48. Profikampf konnte der 37 Jahre alte Wahl-Kölner zum fünften Mal einen WM-Titel erobern, was vor ihm keinem anderen deutschen Boxer gelang.

Und natürlich war der frühere Profi des Hamburger Universum-Stalls, der sich seit 2010 in Eigenregie vermarktet, nach dem Kampf in seinem Element. Er, der sich oft ungerecht beurteilt fühlt, beschimpfte noch im Ring zunächst den früheren Schwergewichtshelden Axel Schulz, der als Experte eine Niederlage vorausgesagt hatte, und setzte dann zu genereller Medienschelte an. „Viele verstecken sich hinter ihrer Zeitung oder den Mikrofonen, haben aber nicht ansatzweise so viel geleistet wie wir“, sagte er.

Felix Sturm hat seine Klasse eingebüßt

Das mag man so sehen. Aber wer mit neutraler Sicht auf die vergangenen Jahre schaut, der muss zu dem realistischen Urteil kommen, dass der Sohn bosnischer Eltern in den vergangenen Jahren zu viel von der technischen und athletischen Klasse seiner früheren Jahre eingebüßt hat, um in der Weltspitze dauerhaft dominieren zu können. Und nichts anderes war, und das völlig zu Recht, immer sein Anspruch.

Die Frage, die unbeantwortet blieb an einem Abend mit vielen Diskussionen, war die nach seiner Zukunft. Sturm hatte angekündigt, auf sein Bauchgefühl zu hören. „Das Bauchgefühl ist gut, vor allem mit einem Gürtel vor dem Bauch“, war seine pfiffige Antwort, die dennoch alles offen ließ. Man musste also zwischen den Zeilen lesen. Zum Beispiel, als Sturm erzählte, er habe seinem sechs Jahre alten Sohn Mahir, der während des Kampfes zwar in der Kabine bleiben musste, danach aber auf Papas Schultern durch den Ring reiten durfte, einmal das Erlebnis gönnen wollen, bei einem WM-Kampf dabei zu sein. Oder als er sagte, vor der letzten Runde gedacht zu haben, „dass das zu 90 Prozent die letzte Runde meines Lebens wird“.

Die Punktrichter werden nicht immer gnädig sein

Die fehlenden zehn Prozent wird sich Felix Sturm nun im Familienkreis zusichern lassen. „Ich werde jetzt erst einmal runterkommen und genießen, und dann werden wir bei einem Grillabend alles klären“, sagte er. Natürlich könnte er nach Moskau reisen und Tschudinow die Revanche gewähren, er könnte seinen Titel gegen andere Topleute verteidigen oder zum großen Zahltag gegen WBO-Champion Arthur Abraham antreten. Aber besser wäre, er würde erkennen, dass es keinen besseren Zeitpunkt zum Abschied gibt als jetzt. Als Gewinner, der auf eine große Karriere zurückblicken kann, und der weiß, dass die Punktrichter nicht immer so gnädig sein werden mit ihm.