Belek. HSV-Talent Matti Steinmann spielte gegen Bayern und bei der U-20-WM. Doch nach dem Aufstieg folgte der Absturz. Ein Ortstermin im All-inclusive-Hotel

Von einem auf den anderen Moment wird es laut. Zwei leicht bekleidete Damen in bunten Kostümen wackeln auf hochhackigen Schuhen durch die rummelige Hotellobby des Riu Kaya, die Musik wird aufgedreht. Ein paar Touristen klatschen im Rhythmus, andere eilen zur Bar, um sich ein All-inclusive-Bier zu holen. „Oha“, sagt Matti Steinmann, „jetzt beginnt das Showprogramm für die Touris.“

Steinmann, 21, hat es sich in einer Sitzecke ganz hinten in der Lobby gemütlich gemacht. Seine Mannschaftskollegen vom Chemnitzer FC sitzen vorne, spielen Backgammon und schlagen die Zeit tot. „Viel kann man hier ja nicht machen“, sagt Steinmann.

Steinmann residiert nur knapp fünf Kilometer entfernt vom HSV-Hotel

Nicht mal fünf Kilometer liegt die Gut-und-günstig-Unterkunft Riu Kaya von der edlen HSV-Mannschaftsherberge Sueno Deluxe entfernt. Doch für Steinmann liegen zwischen den Hotels Welten. Hier die Fußballprovinz am Stadtrand von Belek, in der auch die Drittligateams des Halleschen FC und des VfL Osnabrück sowie einige türkische Zweitligaclubs untergekommen sind. Dort der Fünf-Sterne-plus-Palast am Meer, in dem sich der HSV exklusiv eingemietet hat. Zwei Welten, die Steinmann nur allzu gut kennt.

Seit dem vergangenen Sommer hat der HSV das hoch talentierte Eigengewächs für ein Jahr an den Chemnitzer FC verliehen. „Für ihn ist es wichtig, dass er viel Spielpraxis sammeln kann“, sagte damals HSV-Sportchef Peter Knäbel. In Hamburg galt Steinmann als Rohdiamant, der nur noch geschliffen werden musste. Im Sommer war das Mittelfeldtalent sogar in Neuseeland bei der U-20-WM dabei. Eine Talentebörse, wo aussichtsreiche Nachwuchsfußballer aus der ganzen Welt wie begehrte Aktien gehandelt werden.

Mit dem Wertverlust der Top-Aktie Steinmann hat damals niemand gerechnet. „Mein erstes halbes Jahr in Chemnitz habe ich mir natürlich ganz anders vorgestellt“, sagt der Leihprofi heute. Gerade mal fünfmal von Anfang an durfte der Jugendnationalspieler vom HSV in Chemnitz ran, zweimal wurde er eingewechselt. Zwischendurch war der Youngster nicht mal im Kader. „Das war ein Schlag ins Gesicht“, erinnert sich Steinmann. „Der Trainer sagte mir, dass ich zu viel wiegen würde und dass ich keinen Biss hätte. Solche Ansagen muss man natürlich erst einmal verarbeiten.“

Steinmann verarbeitete. „Für mich war es auch eine Erfahrung, dass ich mich durch dieses Tief durchkämpfen musste“, sagt der junge Mann, der nicht nur die typischen Fußballerfloskeln („Gas geben“) bemüht. „Ich bin ja selber schuld. Ich wollte im Sommer raus aus meiner Wohlfühloase in Hamburg, wollte Erfahrungen sammeln.“

Die Erfahrung Chemnitz fing für Steinmann, wie er selbst sagt, mit „einem echten Kulturschock“ an. Aus der Bismarckstraße im schönen Eimsbüttel direkt in den tiefen Osten nach Chemnitz-Kaßberg. Eine Zweizimmerwohnung in einem Neubau, 500 Euro Warmmiete, zwei Busstationen vom überschaubaren Zentrum entfernt. „Natürlich liegen zwischen Hamburg und Chemnitz Welten“, sagt Steinmann, der trotzdem das Beste aus der Situation machen wollte. Die Sehenswürdigkeiten von Chemnitz waren allerdings schnell abgehakt, auch Dresden („wunderschön“) und Leipzig stattete der gebürtige Hamburger mehrere Besuche ab. Um ein bisschen Abwechslung zu haben, schrieb sich der Abiturient mit dem Notendurchschnitt 2,8 an der TU Chemnitz sogar nebenbei für ein Studium des Wirtschaftsingenieurwesens ein.

Doch als sein Trainer den fehlenden Biss monierte, ließ Steinmann das Nebenbei-Studium mal lieber sein. „Irgendwann würde ich gerne weiterstudieren. Mir gefällt das Studentenleben“, sagt der Mittelfeldstratege, der sich fortan lieber wieder ausschließlich auf den Fußball konzentrierte.

Doch immer dann, wenn er gerade dran war, warf ihn wieder so ein Wehwehchen zurück. Zuletzt war es das rechte Knie, das ihm schon mal große Probleme bereitet hatte. Steinmann fuhr zurück nach Hamburg, ließ sich untersuchen und war erleichtert, dass der Meniskus nicht schon wieder gerissen war. „Bisschen gequetscht oder gezerrt“, sagt Steinmann. „Ich habe noch ein bisschen Schmerzen, es ist aber offenbar nichts Schlimmes.“

Also biss Steinmann auf die Zähne. Ein zweites Mal sollte ihm keiner eine mangelnde Einstellung vorwerfen. Nach seiner ersten Einheit mit der Mannschaft feierte er in Belek am Sonntag direkt sein Comeback. 15 Minuten gegen die Schweizer vom FC Wil. „Bei schnellen Bewegungen habe ich noch was gemerkt“, sagt Steinmann, der aber trotz Knieschmerzen und Grippe durchhielt. Sein Ziel: „Beim Rückrundenauftakt will ich unbedingt wieder dabei sein. Das zweite Halbjahr muss unbedingt besser werden.“

Am 23. Januar startet der Chemnitzer FC gegen Cottbus in die Rückrunde, einen Tag nach dem HSV-Auftaktspiel gegen Bayern München. Die HSV-Partie werde er wohl am Fernsehen verfolgen, sagt Steinmann, der vor anderthalb Jahren noch selbst gegen Bayern auf dem Platz stand. Die 87. Minute, es stand 0:0, die Münchner erhöhten noch mal den Druck, dann wechselte der damalige Neu-Trainer Joe Zinnbauer Steinmann für Nicolai Müller als Defensivstabilisator ein. „Ein Traum wurde wahr. Es ging so schnell, ich hatte kaum Zeit, nervös zu werden“, sagte Steinmann nach seinem ersten Bundesligaspiel.

Ein zweites Bundesligaspiel kam nicht dazu.

Anderthalb Jahre später ist der Kontakt mit seinem früheren Club trotz der räumlichen Nähe auf ein Minimum reduziert. Im HSV-Hotel war er nicht, und vom HSV war auch niemand bei ihm im Hotel. Ex-Kollege Ashton Götz habe ihm über WhatsApp ein lustiges Video zukommen lassen, und auch Knäbel habe ihm mal eine SMS geschickt. Das war es. „Aber es gibt ja auch gar keinen Gesprächsbedarf. In der Hinrunde war ich ja ziemlich außen vor“, sagt Steinmann. „Und plötzlich bist du weg vom Fenster.“ In der Rückrunde will er dieses Fenster nun wieder öffnen. „Wenn man diese ganzen Rückschläge wegsteckt, dann kann man doch eigentlich nur gestärkt daraus hervorgehen“, sagt Steinmann, dessen hoffnungsvolle Worte aber nur wenig hoffnungsvoll klingen.

Neben Steinmann spielen noch zwei andere Hamburger Talente in Chemnitz

In Chemnitz wird man gnadenlos daran erinnert, wie schnell es im Fußball manchmal geht. Nach oben, aber viel zu oft auch nach unten. Martin Fenin spielt etwa in Steinmanns Mannschaft. Der Tscheche wechselte 2008 trotz einer Anfrage von Juventus Turin für 3,5 Millionen Euro zu Eintracht Frankfurt, schoss in seinem ersten Spiel drei Tore. Später wechselte er nach Cottbus, stürzte unter Alkoholeinfluss aus dem Fenster, wechselte nach Prag, Teplice und Istres. Nun also Chemnitz, wo Fenin auf Steinmann und zwei weitere Hamburger traf.

Mit Reagy Baah Ofosu, der den Sprung aus der HSV-Jugend zu den Profis nicht schaffte, und Kevin Tittel, der sein Glück in Halstenbek und Norderstedt suchte, bildet Steinmann an trainingsfreien Tagen eine Hamburg-Fahrgemeinschaft. Viereinhalb Stunden, „wenn wir Gas geben vier Stunden“, dauert die Fahrt aus der Gegenwart in die Vergangenheit. „Heimisch fühle ich mich in Chemnitz nicht, heimisch fühle ich mich nur in Hamburg“, sagt Steinmann, der sich trotzdem im fernen Sachsen durchbeißen will.

„Natürlich frage ich mich manchmal, was ich eigentlich falsch gemacht habe“, sagt Steinmann. Eine Antwort hat er allerdings noch nicht gefunden.