Düsseldorf. Wladimir Klitschko verliert seine Weltmeistertitel nach einer hilfosen Vorstellung gegen den Briten. Bruder Vitali ist “geschockt“.

Man hatte sich schon abgefunden mit den Beschwichtigungen, es sei eben eine dieser Nächte gewesen, an denen nichts geht, und dass es zu früh sei für eine sportliche Fehleranalyse, als Vitali Klitschko das Mikrofon gereicht bekam. Und was der Bürgermeister von Kiew zu sagen hatte über die Leistung seines fünf Jahre jüngeren Bruders an diesem denkwürdigen Sonntagmorgen in der Düsseldorfer Esprit-Arena, war eine fast noch härtere Demontage als die, die der Brite Tyson Fury Wladimir Klitschko zuvor im Ring zugefügt hatte.

„Wir alle wissen, was für ein Potenzial Wladimir hat“, sagte der 44-Jährige, „aber heute haben wir ihn alle nicht wiedererkannt. Heute hatte er keine gute Kondition, keine gute Technik, es war nichts zu sehen von dem, was ihn so stark gemacht hat. Deshalb bin ich auch nicht geschockt über das Ergebnis, sondern von Wladimirs Leistung.“ Das Lächeln, das der entthronte Dreifachweltmeister im Schwergewicht in einer Mischung aus Unsicherheit und gespielter Gelassenheit aufgesetzt hatte, gefror ihm angesichts der schonungslosen Ehrlichkeit seines Bruders zu einer Maske, aus der das Gefühl herauszulesen war, das im gesamten Klitschko-Lager vorherrschte: Enttäuschung. Enttäuschung über eine Leistung, deren Verarbeitung einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte.

Elfeinhalb Jahre, seit der verheerenden K.-o.-Niederlage in Las Vegas gegen Lamon Brewster im April 2004, hatte der Ukrainer nicht verloren. Neuneinhalb Jahre, seit dem Gewinn des IBF-Titels gegen Chris Byrd in Mannheim im April 2006, war er Weltmeister gewesen. Es ist in der Geschichte des Boxsports nur selten vorgekommen, dass solche Erfolgsserien ein gutes Ende nehmen, indem der Champion den richtigen Moment zum Abschied findet. Aber die Art und Weise, wie diese beiden endeten, war Wasser auf die Mühlen der vielen Kritiker, die in Wladimir Klitschko schon immer einen Angstboxer gesehen haben.

Schlimmer als ein Knock-out

Diese einstimmige und angesichts eines Punktabzugs für Fury wegen Schlagens auf den Hinterkopf in Runde elf etwas zu deutliche Niederlage – zwei Punktrichter werteten 115:112, einer gar 116:111 für Fury – war schlimmer, als es ein Knock-out gewesen wäre. Weil sie eine Hilflosigkeit offenbarte, die man einem so erfahrenen Weltmeister nicht zugetraut hätte. Natürlich darf man Fury beglückwünschen für eine couragierte Leistung; der Spruch, dass man immer nur so gut sein kann, wie es der Gegner zulässt, war aus dem Lager der Briten mehrfach zu hören. Tatsächlich aber war es vor allem Klitschkos Unfähigkeit gewesen, ein Konzept zu finden, die für die Niederlage verantwortlich war in einem Kampf, der über weite Strecken keiner war, weil beide voreinander umherhüpften, als wären sie gigantische Wackeldackel, oder sich im Klammern übertrafen.

Es gab nichts, womit Fury überrascht hätte. Dass er die Auslage wechseln, also einen Kampf mit beiden Händen gleich gut aufbauen kann, war erwartet worden – und war, weil er es nur selten tat, kein Faktor. Dass er bei 2,06 Metern Körperlänge, mit der er den Champion um acht Zentimeter überragte, Größen- und Reichweitenvorteile haben würde, war ebenso bekannt wie seine Schnelligkeit bei den Meidbewegungen im Oberkörper. Ein richtige Antwort auf all das hatte Klitschko zu keiner Phase des Kampfes, den knapp neun Millionen Zuschauer live auf RTL verfolgt haben - eine eher mäßige Quote. 8,91 Millionen Fernsehzuschauer bedeuteten einen Marktanteil von 40,1 Prozent. Der Fight lag damit etwas unter dem Schnitt der Klitschko-Kämpfe der vergangenen Jahre.

Es war besonders seine Zögerlichkeit, die frappierend ins Gewicht fiel. Man hat in der Vergangenheit schon einige Kämpfe gesehen, die von Vorsicht und Kontrollzwang geprägt waren; diesmal jedoch hätte der Wahl-Hamburger einen Sonderpreis für Gewaltlosigkeit im Boxring verdient gehabt. Sein Paradeschlag, der linke Jab, fand sein Ziel nie. Die rechte Gerade kam viel zu selten zur Unterstützung, nur drei richtig harte Treffer zählten die Statistiker während der zwölf Runden. Auf Schlagvarianten oder -serien wartete man vergebens. Erst in der Schlussrunde, mit dem Wissen, nur mit einem Knock-out noch gewinnen zu können, versuchte der 39-Jährige, die Distanz zu verkürzen und mehr Risiko zu wagen. Für einen, der vor dem Kampf noch erklärt hatte, er wolle sich neu erfinden, um den Gegner zu verwirren, war das eine Bankrotterklärung. Wenn das die Neuerfindung war, sollte sie niemals Patentreife erlangen.

Klitschko zeigt Größe in der Niederlage

Nun könnte man trefflich darüber spekulieren, welche Gründe der rätselhafte Auftritt gehabt haben kann. War es doch der Sehnenriss in der Wade, wegen dem das ursprünglich für 24. Oktober geplante Duell verschoben werden musste, der ihn im Training behinderte und an seiner Topform nagte? Waren es die Psychospielchen des Gegners, der wenige Stunden vor dem Kampf mit Absage gedroht hatte, weil ihm der Ringboden zu weich erschien?

Wladimir Klitschko zeigte Größe in der Niederlage, indem er alle Spekulationen wegwischte: „Ich war fit und habe mich gut gefühlt, aber ich habe nie die Distanz gefunden, um Treffer zu setzen. Deshalb hat Tyson verdient gewonnen. Ich wusste schon vor der Urteilsverkündung, dass es nicht gereicht hat.“ Trainer Johnathon Banks sagte: „Tyson hat einfach einen guten Job gemacht, während unser Kampfplan nicht aufgegangen ist.“ Klitschko gab zu, dass er Zeit brauchen wird, um sich zu sammeln. „Es fühlt sich sehr komisch an, nach so langer Zeit wieder der Verlierer zu sein. Ich werde nun erst einmal den ersten Geburtstag meiner Tochter und danach Weihnachten feiern, danach mache ich mir Gedanken über die Zukunft“, sagte er.

Wie diese aussieht, ist im Prinzip vorgezeichnet. Es existiert eine vertraglich gesicherte Rückkampfklausel, und beide Parteien bekräftigten, dass sie bereit seien für ein zweites Duell. Ob das eine gute Nachricht ist, bleibt angesichts der erbärmlichen Qualität des ersten Aufeinandertreffens abzuwarten. Das Interesse an einem Rematch dürfte indes riesig sein. Vitali Klitschko hatte deshalb auch schnell den Kampfgeist wiederentdeckt, der aus ihm einen großen Champion gemacht hat. „Heute hat Tyson Fury verdient gewonnen, aber im Rückkampf kann Wladimir beweisen, dass das nur ein Ausrutscher war“, sagte er.

Dass er das kann, ist zweifellos richtig. Wladimir Klitschko hat in seiner Karriere schon mehrfach am Boden gelegen, er ist aufgestanden und zu einem großen Champion geworden, der eine Epoche geprägt hat. Auf die Rache des Bruders, die so gefürchtet war, als Vitali noch boxte, kann er nicht mehr zählen, er muss das allein regeln. Dazu braucht es keine Neuerfindung, er muss nur das abrufen, was er kann. „Wir haben die Schlacht verloren, aber nicht den Kämpfer“, sagte er noch. Das zu beweisen ist nun seine Aufgabe.