Hamburg. Lurups Torwart Michael Glamann kassierte in der Oberliga Hamburg in acht Spielen 43 Gegentreffer. Dennoch genießt er jede Partie.

Als es zum elften Mal hinter Michael Glamann einschlägt, zuckt der 26-Jährige fast unmerklich mit den Schultern. Er kennt dieses Gefühl. Plötzlich peitscht die Stimme eines Gegenspielers über den nur mit einem funzeligen Flutlich beleuchteten Grandplatz an der Flurstraße: „Strengt euch mal an! Ihr seid kein Gegner!“ Einen Augenblick lang könnte man glauben, ein übermütiger Oberligist verhöhne den abgeschlagenen Tabellenletzten SV Lurup im Angesicht eines erneuten Debakels. Doch es handelt sich um ein Trainingsspiel des SVL. Die Stimme gehört Lurups Kapitän Andre Drawz. Er puscht das unterlegene Team, in dem Glamann im Tor steht.

Eigentlich hatte der Luruper Keeper, dem nun jedes Wochenende in der Oberliga Hamburg die Bälle um die Ohren und oft genug hinter ihm ins Netz fliegen, einen einfachen Plan für seine restliche Karriere als Hobbyfußballer. Seine berufliche Veränderung zum Kraftfahrer sorgte 2014 für Glamanns Wechsel vom Landesligisten SV Eidelstedt zum SV Lurup II in die Kreisliga. Lurup ist Glamanns große Liebe, sein Jugendverein, der einzige Club außer Eidelstedt, für den er jemals die Handschuhe überstreifte. „Der Aufwand in der Landesliga wurde für mich leider zu viel. In der Kreisliga wollte ich Spaß am Fußball haben und mit den Jungs ein paar Bierchen trinken“, sagt Glamann. Eine Saison ging der Plan auf.

Hauptsponsor-Rückzug traf Lurup hart

Dann wurde Glamann in der Sommerpause einer der Betroffenen des gewaltigen Knalls, der am 2. April dieses Jahres den 1923 gegründeten Traditionsklub SV Lurup erschütterte. Hauptsponsor Perlwitz kündigte nach Differenzen mit dem Vorstand seinen Abgang zum Saisonende an. Der Etat von über 100.000 Euro brach komplett weg, alle Spieler gingen, verabschiedeten sich zuvor aber mit dem Aufstieg in die Oberliga Hamburg. Ein Aufstiegsverzicht hätte den Sturz der ersten Mannschaft in die Kreisliga bedeutet. Also zimmerten Liga-Obmann Peter Büttner und der vom Jugendkoordinator zum neuen Trainer ernannte Norman Köhlitz kurzerhand ohne Etat ein Team zusammen, vor allem bestehend aus Jugendspielern und der eigenen zweiten Mannschaft. Ein Mitglied dieser Mannschaft: Michael Glamann.

Michael Glamann menschlich gesehen

„Für den Verein war das Ganze sehr schlimm, aber als ich davon gehört habe, dass ich in der Oberliga spielen soll, war das wie ein Geschenk für mich. Wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag auf einem Tag war das“, erinnert er sich. Der von Medien und Experten genutzte Begriff des ,Himmelfahrtskommandos‘ kam ihm nicht in den Sinn, die absehbare Chancenlosigkeit des Teams in der Oberliga war für ihn kein Grund, sich nicht zu freuen. Zunächst landete Glamann jedoch auf der Bank. Darko Lejic spielte, ein impulsives verbales Kraftwerk in eigener Sache. Ein guter Torwart, der allerdings nicht nur Einschläge in seinem Kasten wütend kommentierte. Am fünften Spieltag beim SC Condor sah Lejic nach 60 Minuten die Rote Karte. Glamann wurde beim Stand von 0:1 eingewechselt. Sechs Minuten später hielt er per Hechtsprung einen Strafstoß, die Partie ging 0:2 verloren. Es war der beste Luruper Auftritt bei null Punkten aus elf Spielen und 2:64-Gegen­toren, 43 davon kassierte Glamann.

Bei jedem Gegentor denkt er „Scheiße“

Eigentlich sollte er sich, so der Plan von Trainer Köhlitz, nach dem Condor-Spiel mit Lejic, der zum Torwarttrainer aufgebaut werden sollte, im Kasten abwechseln. Lejic akzeptierte das nicht und verließ den Verein. So war Glamann plötzlich die neue Nummer eins – und sieht nun in jedem Spiel eine Lawine von Offensivkombinationen auf sich zurollen. „Es ist schon Wahnsinn, wie schnell die Spieler in der Oberliga sind. Aber meine Vorderleute und ich sitzen in einem Boot und sind ein verschworener Haufen. Natürlich denke ich bei jedem Ball, den ich aus dem Netz hole: ,Scheiße‘. Aber sofort will ich mich noch mehr anstrengen und weitere Gegentreffer verhindern. Mein Lebensmotto ist ganz klar: Aufgeben ist keine Lösung!“

Stattdessen zieht sich der Mann, der so viele Bälle aus dem Netz holen muss, an allem hoch, um positiv in die Fußballwelt blicken zu können. Dazu gehören nicht nur seine beiden gehaltenen Strafstöße und zahlreichen Paraden, sondern auch das Erlebnis Ober­liga Hamburg. „In Altona zu spielen, wo 1000 Leute am Rand stehen und die Mannschaften anfeuern, das ist einfach geil“, sagt Glamann. Beim 0:6 an der Adolf-Jäger-Kampfbahn erreichten die Luruper ein weiteres Etappenziel. Sie kassierten eine Halbzeit lang (die zweite) kein Gegentor. „Bei Barmbek-Uhlenhorst haben mir die Fans nach dem 0:8 gesagt, wir sollen deren Erzrivalen Paloma schlagen. Das motiviert.“

Glamann zieht Vergleich zum HSV

Gut an kommt der Torhüter auch bei Trainern und Mitspielern. „Er setzt sich sehr für das Team ein, ist ein super Junge. Ab und zu macht er einen Lapsus im Spiel, doch er hält wahnsinnig viele Bälle“, lobt Trainer Köhlitz. Kapitän Andre Drawz sieht es ähnlich: „Michael ist ein guter Typ und Torwart. Schade ist es nur, dass er keinen Torwarttrainer und keinen Mitstreiter als Ersatzmann hinter sich hat.“

Selbst den Klassenerhalt hat HSV-Fan Glamann nicht abgeschrieben: „Der HSV hat in den letzten Jahren auch häufig verloren, und am Ende haben sie es geschafft.“ Sein Kapitän Drawz pflichtet ihm bei: „Die Stimmung in der Kabine ist gut. Wir sprechen die Fehler an, kämpfen auf dem Platz leidenschaftlich. Und wir haben uns spielerisch weiterentwickelt. Wir werden die Saison auf keinen Fall mit null Punkten beenden. Einen Rückzug wie beim FC Elmshorn oder beim VfL 93 wird es sowieso nicht geben.“

Was aber ist, wenn es für die Luruper, die den Kader mittlerweile von 36 auf 22 Spieler verschlankt haben, in dieser Spielzeit immer so weitergehen sollte? Wenn diese Mannschaft, die an den vorherigen Entwicklungen schuldlos ist, bis zum Saisonende einfach kein Oberliga-Niveau erreicht – und Michael Glamann an jedem Wochenende weiterhin sechs- bis zehnmal hinter sich greifen muss? Wenn gar die Negativrekorde des Barsbütteler SV aus der Saison 1999/2000 mit sechs Punkten und von Komet Blankenese aus der Spielzeit 1994/95 mit 131 Gegentreffern geknackt werden und der SV Lurup am Schluss als schlechtestes Oberliga-Team der Geschichte dasteht? Michael Glamann lehnt sich entspannt zurück und guckt auf seine Handschuhe. „Dann“, sagt er, „werde ich allen Kritikern sagen: Ich durfte in der Oberliga spielen und bin dankbar dafür.“