Ein Novum, eine Ausnahme, ein Hingucker, ein Vorbild. Björn Meyer ist 22 Jahre alt und ist Schiedsrichter vom SC Sternschanze.

Ohne ihn geht es nicht los. Björn Meyer versammelt die jungen Fußballer an der Mittellinie und erklärt ihnen kurz, was er von ihnen erwartet. Dann pfeift er das Spiel an. Die 5. D-Jugend des ETV gegen die Jungs von Türkiye. Die 12-Jährigen passen sich den Ball auf dem Kunstrasenplatz an der Bundesstraße gekonnt zu, spielen kluge Pässe in den Raum, attackieren sich hart aber fair. Björn Meyer muss als Schiedsrichter nur ab und zu eingreifen. Dann bläst er in die Trillerpfeife, hebt den rechten Arm und erklärt auf Nachfrage auch gerne, warum er seine Entscheidung jetzt so getroffen hat.

Am Ende heißt es 4:1 für die Kicker aus Eimsbüttel. Abpfiff. Björn Meyer holt die Jugendlichen in die Spielfeldmitte. Ein sportlicher Gruß. Händeschütteln. „Danke, Schiri!“ Dann trotten die Jungs vom Feld. Und Björn Meyer fährt in seinem Rollstuhl hinterher.

„Kaudales Regressionssyndrom“, sagt Björn Meyer ungefragt. „Das wäre doch jetzt die erste Frage gewesen, oder?“ Der junge Schiedsrichter hat sich kurz frisch gemacht. Er setzt sich in seinem Rollstuhl zurecht und sagt, das Schönste nach einem Spiel sei die Dusche und danach ein kühles Bier. Er hat einen muskulösen Oberkörper. Die längeren braunen Haare werden von einem Stirnband zusammengehalten. Der Bart macht ihn etwas älter als 22. Er lacht gerne.

Im Rollstuhl auf Ballhöhe

Gerade wieder ist er 70 Minuten nur mit Hilfe seiner kräftigen Arme über den Platz gerollt. Meist auf Ballhöhe und stets mit schnellen Drehungen in seinem sportlichen Rollstuhl, wenn sich das Spiel plötzlich in die andere Hälfte verlagert hat. Immer darauf bedacht, dem runden Leder bei langen Pässen oder kurzen Schüssen mit seinem Gefährt nicht im Wege zu sein.

Björn Meyer ist der Schiedsrichter, der im Rollstuhl sitzt. Einer, der überall, wo er hinkommt, erst mal auf skeptische Blicke trifft. Fußball ist ein Laufspiel. Dieser Schiedsrichter kann nicht laufen. Wie soll das gehen?

Selbst beim Hamburger Fußballverband gibt es Menschen, die nicht wissen, dass auf den Plätzen der Hansestadt ein Unparteiischer im Rollstuhl Punktspiele pfeift. Björn Meyer ist ein Novum. Eine Ausnahme, ein Hingucker, ein Vorbild. Er will das alles gar nicht sein. Aber er hat auch kein Problem damit.

Bevor er auf den Platz rollt, schleudert er den Erwachsenen am Spielfeldrand gerne ein fröhliches „Moin, Moin“ entgegen.

Seine Schiedsrichter-Karriere ist noch jung. Björn hat vor sieben Monaten seine Prüfung abgelegt und inzwischen genau 46 Spiele geleitet. In der Regel pfeift er Jugendspiele. Er hat aber auch schon Damen- und Senioren-Partien geleitet. Über jedes einzelne Spiel führt er genau Buch. Die Begegnungen sind mit sämtlichen Daten und Vorkommnissen in einem großen Ringbuch abgeheftet.

Die Jugendlichen, sagt Björn, seien viel unkomplizierter als die Erwachsenen, wenn er im Rollstuhl auf das Spielfeld kommt. „Bist du der Schiri“?, fragen sie ihn. „Ja“, sagt er. „Cool“, sagen sie.

Björn Meyer arbeitet in seiner Freizeit als Schiedsrichter

Bjoern Meyer vom SC Sternschanze beim Eimsbuettler Turn- und Sportverein ETV
Bjoern Meyer vom SC Sternschanze beim Eimsbuettler Turn- und Sportverein ETV © www.malzkornfoto.de | (FREELENS Pool) Malzkorn
Für viele ist er ein Novum, eine Ausnahme, ein Hingucker, und ein Vorbild.
Für viele ist er ein Novum, eine Ausnahme, ein Hingucker, und ein Vorbild. © www.malzkornfoto.de | (FREELENS Pool) Malzkorn
Bei der D-Jugend des ETV warten alle nur noch auf seinen Pfiff
Bei der D-Jugend des ETV warten alle nur noch auf seinen Pfiff © www.malzkornfoto.de | (FREELENS Pool) Malzkorn
Um im Rollstuhl pfeifen zu können brauch Björn Meyer Grand- oder Kunstrasen
Um im Rollstuhl pfeifen zu können brauch Björn Meyer Grand- oder Kunstrasen © www.malzkornfoto.de | (FREELENS Pool) Malzkorn
Bei diesem Spiel muss Meyer kaum eingreifen
Bei diesem Spiel muss Meyer kaum eingreifen © www.malzkornfoto.de | (FREELENS Pool) Malzkorn
Und wenn doch holt sich der 22-Jährige die Spieler heran und erklärt auch gerne seine Entscheidung
Und wenn doch holt sich der 22-Jährige die Spieler heran und erklärt auch gerne seine Entscheidung © www.malzkornfoto.de | (FREELENS Pool) Malzkorn
Mit Fußball verbindet er Begegnungen und Leidenschaft. Eine Aufgabe, die auf ihn lauert, und einen ganz eigenen Kosmos, in den er immer wieder eintauchen kann
Mit Fußball verbindet er Begegnungen und Leidenschaft. Eine Aufgabe, die auf ihn lauert, und einen ganz eigenen Kosmos, in den er immer wieder eintauchen kann © www.malzkornfoto.de | (FREELENS Pool) Malzkorn
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Lehrer ließ ihn Exentriker sein

Das kaudale Regressionssyndrom ist eine Fehlbildung des Unterkörpers. Der Grad der Behinderung ist sehr unterschiedlich. Beeinträchtigt sind Rumpf, Beine, Füße. „Und das Wachstum“, sagt Björn. Wenn man ihn fragt, wie groß er ist, sagt er „zwischen 1,50 und 1,60 Meter“. Wie zum Beweis stellt er sich hin und streckt sich langsam in die Höhe.

Er kann seine Zehen nicht bewegen. Seine Beweglichkeit ist eingeschränkt. Eine angeborene Gelenksteifigkeit. „Das ist wie ein Stück Holz, da kann man auch kein Gummiband draus machen.“ Sie haben viel versucht bei ihm. Reha, Metallplatten. Jetzt will er das alles nicht mehr. Er kann stehen, wenn auch nicht ganz gerade. Er sitzt im Rollstuhl, seit er denken kann.

Björn Meyer hat längst aufgehört, mit seiner Behinderung zu hadern. „Das bringt ja nichts“, sagt er. Im Grunde habe er sein Schicksal mit 14 Jahren akzeptiert. „Ab der 7. Klasse.“ Das lag auch an Fritz Güse-Kerkmann. „Ich war und bin ein Exzentriker“, sagt Björn. „Und dieser Lehrer an der Ida-Ehre-Schule war der erste, der mich Exzentriker sein ließ.“

In der Grundschule war er der Außenseiter. Der Junge, der mit dem Fahrdienst zur Schule gebracht und wieder abgeholt werden musste. „Wenn du einmal der geprügelte Hund bist“, sagt er, „kommst du da so schnell nicht wieder raus.“

Vom Besucher zum Schiedsrichter

Björn ist ohne Vater aufgewachsen. „Der war verheiratet, hat meine Mutter, als sie mit mir schwanger war, sitzen lassen und sich aus dem Staub gemacht.“ Björn kennt seinen Namen, will aber nichts von ihm wissen. Seine Mutter hat ihn alleine großgezogen. Mit seiner Oma ist er das erste Mal zum Fußball gegangen.

Am Millerntor fing alles an. Hier hat er sein erstes Profispiel gesehen. St. Pauli gegen Oberhausen. 0:0 im Oktober 2002. Er hatte vorher, wie so viele Jungs in seinem Alter, Panini-Bilder gesammelt. Ist mit Typen wie Stefan Effenberg und Mario Basler vom Fußball-Virus befallen worden. Mit der Generation um Götze und Reus kann er nichts mehr anfangen. Zu glatt. Er ist Fan der Faröer. Jahrelang hatte Björn eine Dauerkarte für den Kiezclub. Doch als er auch bei St. Pauli das Gefühl bekam, der Fußball verkümmere mehr und mehr zum reinen Geschäft, hat er sich den Amateuren zugewandt.

Bei Grün-Weiß Eimsbüttel fand er seine erste Heimat. „Moin Björn, wie geht’s?“, begrüßten sie ihn, wenn er mit seinem Rollstuhl am Wochenende die Spiele auf dem Sportplatz Tiefenstaaken besuchte. Irgendwann fragten sie ihn, ob er nicht Betreuer werden wolle. Kurze Zeit später wurde er Ligaobmann der 1. Herren. „Eine tolle Truppe war das“, sagt er. „Mit einem überragenden Teamgeist.“

Dann fragte ihn eine Trainerin der B-Mädchen vom SC Sternschanze, ob er sie nicht unterstützen könne, weil ihre Co-Trainerin aufgehört hatte. „Irgendwann hatte ich keine Ausreden mehr“, sagt Björn und grinst. Und als zu einem Spiel der Mädels einmal kein Schiedsrichter erschien, ist er halt wieder eingesprungen.

Warum wird man Schiri? „Weil man sich vielleicht über Schiedsrichter geärgert hat und sich denkt, das kann ich besser“, sagt er. Außerdem müsse ja jeder Verein Schiedsrichter stellen. Und zwar einen pro Mannschaft. Wenn der Club das nicht schafft, kostet das 40 Euro. Pro Halbjahr, pro Team.

Was macht einen guten Schiedsrichter aus? „Das Wichtigste ist: Er muss die Entscheidungen, die er trifft, auch offensiv vertreten.“ Nichts sei schlimmer, als ein wankelmütiger Unparteiischer, der bei jedem Pfiff ständig hin und her überlegt.

„Und außerdem“, sagt Björn, „muss ein Schiedsrichter den Charakter eines Spiels erkennen.“ Was das heißt? „Das strenge Regelwerk ist das eine. Aber ein guter Schiedsrichter hat auch immer sehr viel Fingerspitzengefühl, er redet viel und ist im Zweifel immer auf der Seite der Spieler.“

Zum Pfeifen im Rollstuhl braucht Björn Grand- oder Kunstrasenplätze

Es gab Zeiten, da hat Björn mit niemandem mehr geredet. Wollte verschwinden. Unsichtbar sein. Hat sich verkrochen. Wie ist er da wieder raus gekommen? Mit einer Therapie? Einer Selbsthilfegruppe? „Nee“, sagt er. Habe er alles nicht gebraucht. Im Stuhlkreis sitzen und sich sein Leid klagen, damit könne er nichts anfangen. „Das war eben ein längerer Prozess.“ Irgendwann, sagt er, lasse man einfach immer weniger negative Gedanken zu.

Ein Beispiel hat er auch gleich. Wenn er zu einem Spiel fährt und der Fahrstuhl am Hauptbahnhof, wo er umsteigen muss, funktioniert wieder nicht, fragt er flugs die Vorbeigehenden, ob sie ihn die Treppe hochtragen. Anstatt sich darüber zu ärgern, dass der Lift nicht geht. „Mit Glück trifft man so auch noch ein nettes Mädchen“, sagt er.

Björn hat die Erfahrung gemacht, dass die Menschen im Lande sehr hilfsbereit sind und dass man in Hamburg als Behinderter ganz gut zurecht kommt. Nur unter den Radfahrern, findet er, seien überproportional viele rücksichtslose Zeitgenossen unterwegs. „Meine natürlichen Feinde.“

Was erwartet er von seinen Mitmenschen? „Dass sie meinen Humor teilen.“ Wenn er Witze über Behinderte mache, sollten sie gefälligst mitlachen. Björn erzählt auch deshalb seine Geschichte, weil er die Skeptiker am Spielfeldrand überzeugen will. „Damit die Zuschauer irgendwann nicht mehr überrascht sind, wenn da plötzlich am Sonntagmorgen ein Schiedsrichter im Rollstuhl auf den Platz kommt“, sagt er.

„Björn pfeift wirklich gut. Er redet mit den Spielern, nimmt sich nicht so wichtig und wird von allen akzeptiert“, sagt Jugendtrainer Lennart Ohnesorge. Was er meint: Björn Meyer tut dem Fußball richtig gut.

Und umgekehrt. „Fußball bedeutet für mich vor allem, neue Menschen und neue Orte kennenzulernen“, sagt Björn. Mit Fußball verbindet er Begegnungen und Leidenschaft. Eine Aufgabe, die auf ihn lauert, und einen ganz eigenen Kosmos, in den er immer wieder eintauchen kann.

Björn will auch Bilder korrigieren. Schubladen öffnen. Behinderte, so die Botschaft, seien eben nicht automatisch spaßbefreit und hilfsbedürftig. Sie können feiern und Fußballspiele leiten. Manchmal setzen ihn seine Kumpels in der Vereinskneipe auf den Hocker an den Tresen. Und während Björn sich sein(e) Weizen schmecken lässt, versuchen sie, mit seinem Rollstuhl umher zu kurven. Und stellen fest, dass es gar nicht so leicht ist – das Anderssein. Björn sagt, er fühle sich gar nicht so anders. „Wenn ich nachts träume, bin ich nicht im Rollstuhl unterwegs.“

Zurzeit arbeitet Björn im öffentlichen Dienst und inspiziert Gelände auf Barrierefreiheit. Aber er möchte Lehrer werden. Er möchte dazu beitragen, „dass die Stadtteilschulen besser werden“. Er möchte Schüler zwischen der fünften und der 10. Klasse unterrichten. „Dort kann man mit den richtigen Worten noch viel erreichen und in die Persönlichkeitsentwicklung eingreifen.“ Dort hatte er selbst seine stärkste Phase als Schüler, mit dem richtigen Lehrer an seiner Seite.

Weil er sich mit einem Notenschnitt von 3,2 im Abiturzeugnis „so gerade noch ins Ziel gerettet hat“, muss er im Herbst Hamburg verlassen und zum Lehrer-Studium (Deutsch und Geschichte) nach Erlangen. Björn, der nichts schlimmer findet als zähe Tage voller Langeweile, freut sich auf den Tapetenwechsel. Und hofft, dass es auch in Bayern genügend Kunstrasen- oder Grandplätze gibt. Die braucht er nämlich, um mit seinem Rollstuhl auf dem Fußballplatz klar zu kommen.

Schließlich ist er zurück im Spiel. Quasi aus dem Abseits wieder in die Spielfeldmitte gerückt. Er hat seinen Platz gefunden und vergleicht sein Leben gerne mit einem ganz normalen Tag. „Du gehst aus dem Haus und hast den Schlüssel von innen stecken lassen. Scheiße. Du trittst aus der Tür und es regnet in Strömen. Mist. Du kommst zur Haltestelle und der Bus fährt dir vor der Nase weg. Na toll. Aber soll ich mich deswegen jedes Mal umbringen?“

Er hat halt irgendwann beschlossen, dass ohne ihn das Spiel nicht angepfiffen werden kann.