Hamburg. Mit einem Übersteiger entschied Fjörtoft das legendäre Abstiegsfinale der Saison 1998/99. Der Norweger über Druck, graue Haare und Olic.

29. Mai 1999, 34. Spieltag der Fußball-Bundesliga. Der deutsche Meister Bayern München steht schon seit Wochen fest, und doch sollte dieses Saisonfinale als eines der größten Dramen in die Ligageschichte eingehen. Fünf Mannschaften kämpfen noch um den Klassenerhalt – in dieser Saison sogar sechs. Die sensationelle Rettung von Eintracht Frankfurt ist heute vor allem mit einem Namen verbunden: Jan-Aage Fjörtoft. Sein legendäres Tor zum 5:1 gegen Kaiserslautern in der letzten Minute beförderte überraschend den 1. FC Nürnberg in die Zweite Liga. Fjörtoft, 48, lebt heute wieder in seiner Heimat Norwegen. Er ist seit März 2014 Teammanager der Nationalmannschaft, nebenbei arbeitet er als Experte für Sky. Auf seinem Handy klingeln in dieser Woche viele Nummern aus Deutschland. Er ist ein gefragter Gesprächspartner vor dem Bundesligafinale an diesem Sonnabend.

Steigt der HSV ab? Und was, wenn ja?

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    Hamburger Abendblatt: Herr Fjörtoft, wissen Sie, welcher Suchbegriff ganz oben auftaucht, wenn man Ihren Nachnamen bei Google eingibt?

    Jan-Aage Fjörtoft: Ich vermute mal das Wort Übersteiger.

    Richtig. Können Sie uns die berühmte Szene aus dem Abstiegsdrama von 1999 noch einmal schildern, als Sie mit Ihrem Übersteiger-Tor in der 89. Minute der Eintracht den Klassenerhalt sicherten?

    Fjörtoft : Es war eine Zwei-gegen-eins-Situation. Christoph Westerthaler hat den Ball irgendwie von rechts zu mir gebracht. Als ich auf Torhüter Andreas Reinke zulief, habe ich nicht nachgedacht, der Übersteiger war intuitiv.

    War das cool oder arrogant?

    Fjörtoft : Das Tor passt zu meiner Person. Im Nachhinein war es wohl ein bisschen verrückt. Heute wäre ich wahrscheinlich nervöser, weil ich gewusst hätte, dass an so einem Tor auch der Arbeitsplatz eines Platzwartes hängen kann. Wäre es damals schiefgegangen, hätte ich wohl nie wieder nach Frankfurt einreisen dürfen. Manchmal muss man wohl etwas Extraordinäres machen, um eine Heldengeschichte zu schreiben. Für mich was das damals ganz normal.

    Es war auch nicht das erste Tor, dass Sie auf diese Art geschossen haben.

    Fjörtoft : Ich habe als Kind schon viel vor dem Tor experimentiert. Wenn man frontal auf den Torwart zuläuft, ist der Winkel schlechter, als wenn man von der Seite kommt. Man kann am Torwart vorbeilaufen, aber der Schnellste war ich nie. Lupfen ist oft zu riskant. Dann bin ich auf den Übersteiger gekommen. So habe ich mit 18 mein erstes Tor in der Zweiten Liga in Norwegen gemacht und 1993 das 2:0 für Norwegen gegen Polen in der WM-Qualifikation, mein wichtigstes Länderspieltor. Der Trick war immer in meinem Repertoire.

    Sie haben nach dem Klassenerhalt mit Frankfurt gesagt, Ihr Trainer Jörg Berger hätte auch die „Titanic“ gerettet. Wie hat er das damals geschafft?

    Fjörtoft : Vor dem Spiel gegen Kaiserslautern hatten wir drei Spiele am Stück gewonnen. In Bremen, gegen Dortmund und auf Schalke. Dadurch sind wir mit viel Selbstvertrauen in das Spiel gegangen. Jörg Berger hat es geschafft, seine Nervosität zu verbergen. Er hat uns immer gesagt, dass wir es noch schaffen. Als wir auf Schalke zur Halbzeit 1:2 zurücklagen, kam er in die Kabine mit seinen coolen Klamotten und hat uns einfach gesagt, dass wir ruhig bleiben müssen. Das war seine Art. Es ist sehr wichtig, dass ein Trainer den Druck von den Spielern fernhalten kann. Berger hat immer gesagt, in der Ruhe liegt die Kraft. Das hat er immer wiederholt.

    Das war alles? Keine Zaubertricks bei der Kabinenansprache?

    Fjörtoft : Der Zaubertrick war seine Ruhe. Er konnte mit jedem Spieler kommunizieren. Er hat immer zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Worte gefunden. Deswegen war er ein beson­-derer Typ für solche Situationen.

    Die Situation in der aktuellen Bundesliga-Tabelle sieht ähnlich aus wie vor dem 34. Spieltag der Saison 1999.

    Fjörtoft : Das stimmt, deswegen werde ich im Moment auch wieder häufig auf das Drama angesprochen. Es gab damals so viele verschiedene Theorien, wer absteigen könnte, aber an Nürnberg hatte keiner gedacht. Das Nürnberg könnte in diesem Jahr Hertha BSC werden, wobei Berlin ja nicht direkt absteigen kann.

    Und welcher Trainer könnte der neue Berger sein?

    Fjörtoft : Ich glaube dass Huub Stevens mit seiner Affen-Aussage und die Mannschaft mit ihrem Affentanz neue Energie freigesetzt haben. Für Stuttgart und den HSV ist es die größte Herausforderung. Das sind die großen Mannschaften, die haben so viel zu verlieren. Paderborn dagegen hat nichts zu verlieren, die sind zufrieden, dass sie überhaupt noch die Chance haben. Auch für Freiburg wäre ein Abstieg kein großes Drama. Aber für die Bundesligagiganten HSV oder Stuttgart ist der Druck riesig. Deswegen werden ja auch keine Zwischenstände in den Stadien angezeigt. Für den HSV ist es das Wichtigste, dass die Uhr weiterläuft, nur die kann man leider nicht verstecken.

    Können Sie das Gefühl des Last-minute-Klassenerhalts beschreiben?

    Fjörtoft: Eine Meisterschaft zu gewinnen ist sicher schöner, als nicht abzusteigen. Dafür verspürt man dieses große Gefühl der Erleichterung. Ein Abstieg hat viele Konsequenzen. Es geht um Existenzen, es geht um Arbeitsplätze. Es ist nicht leicht, mit diesem Druck umzugehen. Es dann zu schaffen ist keine Freude, sondern Erleichterung. Man schafft etwas für den Verein, für die Fans.

    Welche Faktoren werden am Ende den Ausschlag geben?

    Fjörtoft : Entscheidend ist die richtige Mischung zu finden aus älteren Spielern, die Ruhe ausstrahlen, und jungen, wilden Typen, die sich keine Gedanken machen. Denn je älter ein Spieler wird, desto nervöser wird er, weil man die Konsequenzen kennt. Man darf den Spielern aber auch nicht sagen, was ein Abstieg für Folgen hätte. Du brauchst zwei bis drei Spieler, die einfach nur Fußball spielen wollen. Es gibt genug Leute drumherum, die an 100 verschiedene Konsequenzen denken.

    Haben Sie eine vergleichbare Drucksituation erlebt?

    Fjörtoft : Ich bin seit 25 Jahren mit meiner Frau verheiratet, da ist jeder Tag ein Nichtabstiegskampf. Bis jetzt habe ich es immer geschafft, auch ohne Übersteiger (lacht).

    Ist es hilfreich, in der Woche vor so einem Spiel mit der Mannschaft ins Kloster zu fahren oder in ein Kurztrainingslager?

    Fjörtoft : Für die großen Clubs kann das wichtig sein, um sich vom öffentlichen Druck etwas abzuschotten. Der Trainer kann viele Einzelgespräche führen, man hat keine privaten Termine. In Deutschland sind diese Mini-Trainingslager sehr beliebt. In England kennt man das gar nicht. Wenn da ein Trainer auf so eine Idee kommt, würden ihn die Spieler fragen: Spinnst du?

    Wie gefällt Ihnen die Idee von Tomas Oral, dem neuen Trainer des FSV Frankfurt, mit seinen Spielern in eine Autowaschanlage zu gehen?

    Fjörtoft : Wenn der FSV in der Zweiten Liga den Klassenerhalt schafft, war das genial. Dann werden alle Trainer in Deutschland diesen Trick machen. Wenn er es nicht schafft, war es die dümmste Idee, die ich je gehört habe. So einfach ist Fußball.

    In der Zweiten Liga sieht die Lage in der Tabelle ähnlich dramatisch aus. Warum tun sich Vereine wie 1860 München oder der FC St. Pauli so schwer?

    Fjörtoft : St. Pauli oder auch 1860 haben gute Einzelspieler, aber auch großen Druck. Die einen spielen in der Allianz-Arena, die anderen sind der Kultverein, der gerne in der Zweiten Liga spielen will. St. Pauli hat mit Ewald Lienen einen sehr erfahrenen Trainer. Die Trainerfüchse, die lange dabei sind, haben ihre kleinen Tricks. Die Herausforderung ist es, mit der neuen Spielergeneration umzugehen. Manche Spieler müssen gestreichelt werden, man muss viel mit ihnen sprechen. Ich kann verstehen, dass viele Trainer graue Haare bekommen. Nur Ewald Lienen nicht, der ist ein Gegenbeispiel (lacht).

    Erkennen Sie bei Bruno Labbadia die ersten grauen Haare?

    Fjörtoft : Ich kenne Bruno sehr gut, er war schon Spieler und Trainer beim HSV, er weiß, wie man mit so einer Situation umgehen muss. Der Vorteil des HSV ist der Gegner. Schalke sieht im Moment überhaupt nicht wie eine Mannschaft aus. Normalerweise tippe ich nicht gerne, aber ich bin fest davon überzeugt, dass Hamburg gegen Schalke gewinnen wird.

    Welcher HSV-Spieler kann denn den Fjörtoft-Übersteiger übernehmen?

    Fjörtoft : Ivica Olic könnte etwas machen, was er noch nie gemacht hat. Zum Beispiel einen Fallrückzieher aus 25 Metern – wie Zlatan Ibrahimovic gegen England. In 15 Jahren werden Olic und ich uns dann irgendwo zwischen Kroatien und Norwegen treffen und über das Abstiegsdrama 2015 sprechen.