Hamburg. Deutscher Olympischer Sportbund will Talentförderung an Eliteschulen neu strukturieren: Unterricht bei Bedarf auch in Ferien.

Es sind Zahlen wie diese, die Bundesinnenminister Thomas de Maizière und den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) alarmiert haben: Während die gesamtdeutsche Olympiamannschaft 1992 in Barcelona noch 82 Medaillen gewann, holten ihre Nachfolger 20 Jahre später in London 44. Bei Winterspielen verläuft der Trend inzwischen ähnlich. 1992 in Albertville belegten die deutschen Sportler mit 26 Medaillen Platz eins der inoffiziellen Nationenwertung, 2014 in Sotschi mit 19 Medaillen Rang sechs. „Es muss einen Zusammenhang zwischen Geld und Erfolg geben“, stellt de Maizière klar. 155 Millionen Euro gibt der Bund in diesem Jahr für die Spitzensportförderung aus, 15 Millionen mehr als zuletzt. Rund 55 Millionen davon erhalten 53 Fachverbände.

Dirk Schimmelpfennig, 53, der ehemalige Tischtennis-Bundestrainer und -Sportdirektor soll als neuer DOSB-Vorstand Leistungssport nun die Trendwende schaffen. „Er ist Praktiker und Visionär zugleich“, sagt Tischtennis-Präsident Thomas Weikert.

Er wisse sehr wohl um die Schwere seiner Aufgabe, sagt Schimmelpfennig im Gespräch mit dem Abendblatt: „War unser Nachwuchs vor einigen Jahren in vielen Disziplinen Weltklasse, und die Herausforderung bestand vor allem darin, den oft schwierigen Übergang ins Spitzensportalter zu ebnen, so verzeichnen heute unsere Jugendlichen bereits frühzeitig Defizite im Vergleich zum Nachwuchs der in der Welt führenden Nationen. Wir müssen unseren Leistungssport früher als bisher auf die Anforderungen in der Weltspitze ausrichten und schon im Nachwuchsalter mehr und gezielter trainieren.“

Eine Schlüsselrolle sollen die 43 Eliteschulen des Sports spielen – wie die Hamburger am Alten Teichweg. Schimmelpfennigs Ziel: „Bei den Sommerspielen 2024, um die sich Hamburg ja bewirbt, wollen wir den Anschluss an die absolute Weltspitze wieder geschafft haben.“ Bildung und Leistungssport effektiver zu verzahnen, das ist einer der Schwerpunkte seiner Agenda 2024: „Die Eliteschulen des Sports sollen sich als Schulen für den Elitesport verstehen.“ Dass Training und Unterricht noch individueller auf die Sportschüler abgestimmt werden muss, darüber herrschte im April in Potsdam bei der Konferenz der Eliteschulen des Sports bei den Vertretern der Sport- und Kultusministerien, des DOSB, der Landessportbünde und der Verantwortlichen der Eliteschulen des Sports Einigkeit. Zentrales Anliegen ist die Individualisierung des Unterrichts.

Die Präsenzpflicht in der Schule soll künftig stärker auf Trainings- und Wettkampfpläne zugeschnitten, lernen außerhalb des Stundenplans zur Regel werden. Versäumte Stoffe könnten auch in den Ferien nachgeholt werden. Beides erfordert zusätzliche Lehrerstellen. Schimmelpfennig regt – bei Bedarf – zudem eine Streckung der Schulzeit für Sportler an: G10 statt G8, zehn statt acht Jahre auf den weiterführenden Schulen bis zum Abitur.

Ein Beispiel für eine erfolgreich gestreckte Schullaufbahn wäre Andreas Wellinger, 19, aus Ruhpolding, Mannschaftsolympiasieger 2014 im Skispringen, der in diesem Sommer nach 14 Jahren wohl sein Reifezeugnis erhalten wird. Die vier Abiturprüfungen zeitlich auf zwei Jahre aufzuteilen, sei ebenfalls eine Variante. Ein entsprechendes Pilotprojekt läuft bis 2017 in Brandenburg. Gegen Bedenken der Bildungspolitiker über Ungleichbehandlungen der Schüler argumentiert Schimmelpfennig: „Ungleich ist, dass Spitzensportler neben der Schule täglich drei bis fünf Stunden trainieren. Leistungssportler haben eine 70-Stunden-Woche. Die von uns angestrebten Veränderungen sind kein Türöffner für eine soziale Hängematte Leistungssport.“

Das neue System würde dem Nachwuchs ein Stück dessen zurückgeben, worauf viele Leistungssportler in jungen Jahren oft verzichten müssen: Freizeit. „Für die physische wie psychische Regeneration und die Persönlichkeitsentwicklung ist Freizeit unerlässlich. Und die kam bislang zu kurz“, sagt Hamburgs Olympiastützpunktleiterin Ingrid Unkelbach, 55, Mitglied der Kommission Leistungssportförderung. Die Folge sind Stresssymptome, Karriereabbrüche und Burnout-Syndrome, die Mediziner immer häufiger schon bei Schülern beobachten.

Schimmelpfennig will nicht nur die schulischen Rahmenbedingungen verbessern, auch sollen Sportler gezielter auf das Leben nach oder neben der Karriere vorbereitet werden: „Wir wollen die Kooperationen mit Unternehmen ausbauen, Praktika erleichtern, vermehrt Einstiegsmöglichkeiten für Leistungssportler in Ausbildung und Beruf zur Verfügung stellen.“ Auch jene Sportler sollen abgesichert werden, die ihre Laufbahn etwa nach Verletzungen oder Krankheiten abbrechen müssen. „Wir haben eine große Verantwortung gegenüber diesen jungen Menschen, und der werden wir nachkommen.“

Weiteres Potenzial für nachhaltige Spitzensportförderung sieht Schimmelpfennig bei den Fachverbänden. 40 Prozent haben nach Auskunft des Instituts für angewandte Trainingswissenschaften nicht einmal aktuelle Rahmentrainingspläne vorlegen können. „Die Verbände können dadurch nicht ihren Bedarf gegenüber dem DOSB, dem Bund und den Eliteschulen formulieren, was sie an Stellen und anderer Unterstützung brauchen.“ Stützpunktleiterin Unkelbach pflichtet ihm bei: „Wir haben in Deutschland nicht nur ein Trainerproblem, weil wir Trainer in olympischen Sportarten zu schlecht bezahlen, sondern ein ebenso gravierendes Managementproblem. “

Schimmelpfennig möchte deshalb Leistungssportler, die ihrer Karrieren abbrechen oder auch erfolgreich abschließen, animieren, Ausbildungen zum Leistungsssportpersonal anzugehen. „Der Sport kann auf ihr Wissen und ihre Erfahrungen, die sie in ihrer Jugend gemacht haben, nicht verzichten.“ Und nur wenn die angedachten Maßnahmen alle greifen, sagt er, „haben wir die Chance, ab 2024 in die Weltspitze zurückzukehren“.