Hamburg.

Zugegeben, einen Text mit einer Beschreibung der Wetterlage zu beginnen, ist nicht sonderlich kreativ. In diesem Fall, und damit ist die aktuelle Lage beim FC St. Pauli gemeint, drängt sich der Blick in den Himmel aber förmlich auf. Es lief die vierte Spielminute im Spiel gegen den FC Erzgebirge Aue, als sich über dem Millerntor am Sonntag ein Regenbogen bildete und die Sonne das Stadion in einem romantischen Licht erscheinen ließ. Mitten in der stärksten Phase des Kiezclubs. Mit zunehmender Spieldauer passte sich die Mannschaft dann an das zunehmend schlechter werdende Wetter an. Am Montagmorgen nach dem enttäuschenden 0:0 gegen Aue herrschte an der Kollaustraße dann „Hamburger Schweinewetter“, wie es Verteidiger Sebastian Schachten nannte. Schneeregen. Kälte. Grauer Himmel. Passend zur Situation des FC St. Pauli: Elf Spieltage vor Saisonende verharrt der Verein auf dem letzten Platz der Zweiten Liga. In den vergangenen 15 Ligaspielen gelang nur ein Sieg. „Nicht reden, machen“, hatte Trainer Ewald Lienen vor dem Kellerduell gegen Aue gefordert. Gemacht haben seine Spieler wieder viel. Gebracht hat der Aufwand indes wenig. Was also tun nach nur zwei Punkten aus vier Spielen gegen direkte Abstiegskonkurrenten? „Wir werden alles neu überdenken müssen“, sagte Trainer Ewald Lienen nach dem Spiel. Das bedeutet: Alles kommt auf den Prüfstand. Lösungswege, die es bei St. Pauli zu hinterfragen gilt, gibt es viele.

Die Systemfrage: Seit Lienen St. Pauli trainiert, hat er der Mannschaft eine klare Spielphilosophie vermittelt: Die Defensivorganisation hat Priorität, zudem will Lienen Spielkontrolle ausüben. In den vier Spielen nach der Winterpause war die Dominanz, abgesehen von 60 Minuten gegen Aue, zwar sichtbar – der Ertrag dagegen gering. In den kommenden Wochen geht es fast ausschließlich gegen Teams aus der oberen Tabellenhälfte. Ob St. Pauli diese Partien dominieren kann? Fraglich. Lienen muss dementsprechend seine Ausrichtung verändern, ohne seine Idee aufzugeben. Eine Mauertaktik mit „zwei Bussen vor dem Strafraum“, so Lienen wortwörtlich, wird es nicht geben. „Wir sind nicht unbedingt eine Kontermannschaft. Aber wenn es hilft, warum nicht?“

Die Flügelfrage: Die Abschlussschwäche bleibt St. Paulis Hauptproblem. Das wurde gegen Aue erneut deutlich. An der fehlenden Qualität der Stürmer liege es aber nicht, betont Lienen. John Verhoek, Ante Budimir und Christopher Nöthe hätten ihre Stärken bei Flanken. „Wir sind nicht gerade mit Außenstürmern bestückt, die an die Grundlinie gehen und flanken“, sagt Lienen. Lennart Thy, der zuletzt über links kam, gehöre eigentlich in das Zentrum. Aber auch von den Außenverteidigern kam bis auf eine Flanke von Rückkehrer Jan-Philipp Kalla in der Anfangsphase nichts Zwingendes. Verhoek, der mit einem Pfostentreffer nach einem langen Ball die beste Möglichkeit verzeichnen konnte, beklagte nach dem Aue-Spiel die Qualität der Flanken, muss bei dieser Aussage aber offensichtlich seine vergebenen Chancen gegen Fürth nach Hereingaben verdrängt haben. Letztlich betreibt St. Pauli einen zu hohen Aufwand für zu wenig Ertrag. Der Mannschaft bleibt also weiterhin nur die Hoffnung, dass der Ball irgendwie über die Linie rollt.

Die Kopffrage: Kapitän Sören Gonther wollte die fehlende Frische, die Lienen beobachtet hatte, nicht als Erklärung für den müden Auftritt gegen Aue gelten lassen. „Man hat gemerkt, was während des Spiels in unseren Köpfen passiert ist. Wir hatten Angst, das Spiel zu verlieren“, sagte Gonther am Montag. Dabei wirkte er fast schon erleichtert, die Spiele gegen die Abstiegskonkurrenz nun hinter sich zu haben. „Wir fahren jetzt nach Braunschweig, da erwartet keiner etwas von uns. Die Außenseiterrolle kommt uns gelegen“, sagte der 28 Jahre alte Innenverteidiger. Auf eine Diskussion über fehlende Führungsspieler wollte er sich nicht einlassen. „Das ist mir zu banal. Vielleicht sind die Spieler von den Charaktereigenschaften her nicht mehr so wie früher. Aber es geht im Endeffekt doch nur um gute oder schlechte Spieler. Und wir haben genug Spieler mit Qualität. Wir müssen jetzt nur die Köpfe freibekommen“, sagt Gonther.

Wie das passieren soll, ist derzeit die Königsfrage. Mit einem Mentaltrainer zu arbeiten sei für Lienen nicht der Königsweg. „Es ist nicht so, dass man sich zusammensetzt, etwas bespricht und dann fallen die Tore“, sagte Lienen am Sonntagabend im NDR-Sportclub. „Wir müssen einfach weiterarbeiten. Manchmal hat man eine Blockade, die sich nur löst, wenn man das Tor trifft.“ Die Mannschaft lebe in jedem Fall, sagt Gonther. Auch außerhalb des Platzes würden die Spieler viel zusammen machen. Teambildende Maßnahmen hält der Kapitän daher nicht für nötig. „Wir werden jetzt sicher nicht zusammen nackt über den Kiez tanzen.“

Die Belastungsfrage: Hat die Mannschaft in der Woche vor dem Spiel gegen Aue zu hart gearbeitet? Diese Frage stellte sich Lienen hinterher selbst. Und auch wenn Kapitän Gon­ther sie mit einem klaren Nein beantwortete, bleibt die Dosierung der Belastung in den kommenden Wochen ein entscheidendes Thema. Trainiert das Team zu sanft, muss sich Lienen möglicherweise den Vorwurf gefallen lassen, seine Spieler seien nicht fit genug. Trainiert das Team zu hart, riskiert Lienen eine Überlastung oder neue Verletzungen. Und die wären in dieser Phase der Saison kaum mehr zu kompensieren.

Schachten, Görlitz und Thorandt sind auf dem Wege der Besserung

Mit Christopher Buchtmann, Bernd Nehrig, Markus Thorandt und Michael Görlitz fehlen wichtige Spieler seit Wochen. Während Görlitz nach seinem Muskelfaserriss in der Wade und der zuletzt mit einer Zerrung außer Gefecht gesetzte Sebastian Schachten in dieser Woche wieder in das Mannschaftstraining zurückkehren könnten, arbeitet Thorandt nach einer langwierigen Knieverletzung immerhin wieder mit dem Ball. Ob der Abwehrroutinier und insbesondere Buchtmann sowie Nehrig in dieser Saison noch eine Rolle spielen, ist allerdings mehr als fraglich. Weitere Langzeitausfälle kann sich St. Pauli nicht mehr leisten.

Und so wird die Belastungsfrage für Trainer Ewald Lienen in den kommenden Wochen zur Gretchenfrage. „Wir müssen eine Lösung finden, um mit der richtigen Frische in die restlichen Spiele zu gehen“, sagt er. Hoffnung dürfte St. Paulis Anhängern machen, dass der 61 Jahre alte Coach diese Frage nicht zum ersten Mal in seiner Karriere beantworten muss.