Die Beichte des ehemaligen Mentors von Jan Ullrich stört die Betriebsruhe der 97. Tour de France. Auch Lance Armstrong wird beschuldigt.

Brüssel/Montargis. Der Dopingskandal um den ehemaligen deutschen Radprofi Jan Ullrich geht in eine neue Runde. Organisierte Ullrich-Reisen zum Doping-Arzt Fuentes, indirekte Vorwürfe gegen Lance Armstrong und systematische Manipulationen im „halben Fahrerfeld“: Die Beichte des früheren Ullrich-Mentors Rudy Pevenage könnte die Betriebsruhe der 97. Tour de France empfindlich stören. Der 56-jährige Belgier gab nach jahrelangem Schweigen in einem Interview des Tour-Zentralorgans „L'Équipe“ erstmals die Verwicklung seines ehemaligen Schützlings in die Doping-Affäre Eufemiano Fuentes zu. „Wozu soll es gut sein, weiter zu lügen? Ich habe die Reisen von Jan nach Madrid zu Fuentes organisiert“, sagte Pevenage am Donnerstag.

Er betonte aber auch: „Ich selbst habe nie verbotene Produkte gekauft oder verkauft.“ Ullrichs Manager Wolfgang Strohband reagierte auf Pevenages brisantes Outing relativ gelassen. „Jan hat mit der Vergangenheit abgeschlossen. Ich glaube nicht, dass ihn das interessiert“, sagte Strohband der Nachrichtenagentur dpa.

Ullrichs juristischer Dauergegner Werner Franke forderte nach Pevenages überraschendem Schritt an die Öffentlichkeit Konsequenzen. „Das sollte zu weiteren Ermittlungen Anlass geben. Das sind alles Straftaten“, kommentierte der Heidelberger Professor Ullrichs angebliches „systematisches Doping auf hohem finanziellen Niveau“. Der im Februar 2007 zurückgetretene Ullrich, der als Telekom-Kapitän 1997 die Tour gewonnen hatte, hat Doping stets bestritten.

Zumindest für den einstigen Ullrich-Rivalen Armstrong, der noch immer in der Tretmühle der Tour steckt, könnten die Bekenntnisse unruhige Tage bringen. Denn Pevenage klagte auch den Rekordsieger indirekt an: „Wir waren keine Idioten. Wir kannten Armstrong vor seiner Krebserkrankung. Die Verwandlung nach seiner Rückkehr war unglaublich. Wir haben schnell begriffen, dass es keine Wahl gibt.“

Die Dominanz des 38 Jahre alten Texaners, der zwischen 1999 und 2005 siebenmal die Große Schleife gewann, hat wohl mit dazu geführt, dass Ullrich wieder in die „schlechte Spirale“ geriet. „Es entstand der Druck, dass Maximum zu tun, um Armstrong zu schlagen“, meinte Pevenage. „Alle Fahrer haben sich behandelt, das war fast normal. Man hat die Illegalität dieser Methoden nicht wahrgenommen.“

Der Ex-Radprofi bezichtigte rückblickend „mindestens das halbe Fahrerfeld“ der Frankreich-Rundfahrt des Dopings. „Es gibt heute noch viele Fahrer, die Fuentes frequentiert haben und immer noch ihre Schnauze aufreißen, um große Vorträge zu halten“, stellte der mit Ullrich in ständigem Kontakt stehende Pevenage fest. Man habe „nur ein Minimum“ der Dopingsünder bestraft, obwohl viele „den gleichen Schwachsinn“ gemacht hätten.

Teilweise hätten Profis trotz auffälliger Blutwerte weiterfahren dürfen: „Das ist wie bei einer roten Ampel, die man fünfmal ohne Strafe überfährt“, sagte Pevenage und stellte damit die Effizienz der Kontrollen bei der Tour infrage. Fuentes ist laut Pevenage nicht der einzige Arzt mit Spezialaufgaben im Radsport: „Die anderen Teams hatten auch ihre Organisationen zur medizinischen Betreuung.“

Im Bonner Magenta-Team, in dem Pevenage von 1994 bis 2003 und nochmals kurz 2006 Sportlicher Leiter war, habe man „nach der Festina-Affäre 1998 mit allem aufgehört. Unsere Mannschaft war in den folgenden Jahren wirklich sauber.“ Nachdem die Equipe ihre Ergebnisse mit der Erfolgsbilanz anderer Teams verglichen habe, sei klar gewesen, „dass einige eine Methode entwickelt haben mussten, um EPO zu ersetzen.“

Die Staatsanwaltschaft Bonn hatte Ullrich per DNA-Abgleich nachgewiesen, dass der einzige deutsche Tour-Sieger Blut bei Fuentes gelagert hatte. Im Oktober 2009 legte „Der Spiegel“ mit einem umfassenden Bericht des Bundeskriminalamtes (BKA) nach. Dort hieß es: „Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Beschuldigte Ullrich das Dopingsystem des spanischen Arztes Dr. Fuentes nutzte, um sich vertragswidrig mit leistungssteigernden Mitteln und Methoden auf seine Wettkämpfe vorzubereiten.“ Zwischen 2003 und 2006 sei der Wahl-Schweizer insgesamt 24 Mal zu Fuentes nach Madrid geflogen.

Die Bonner Staatsanwaltschaft hatte lange gegen Pevenage wegen Betrugsverdachts ermittelt, am Ende auf ein Verfahren gegen Zahlung von 25 000 Euro verzichtet. Auch Ullrich hatte sich mit der Behörde nach Zahlung einer zehnmal höheren Summe außergerichtlich geeinigt. Der jetzige Rad-Ruheständler war im Zuge der Fuentes-Affäre 2006 vom T-Mobile-Team unmittelbar vor dem Tour-Start ausgeschlossen worden.