Im italienischen Dorf Sant'Anna di Stazzema brachte die Waffen-SS 560 Menschen um. 70 Jahre nach dem Massaker könnte nun ein in Volksdorf lebender 93-Jähriger doch noch zur Rechenschaft gezogen werden.

Karlsruhe/Hamburg. 70 Jahre nach einem NS-Massaker in der Toskana könnte ein in Hamburg lebender Beschuldigter doch noch zur Rechenschaft gezogen werden. Das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe entschied laut einer Mitteilung vom Dienstag, dass gegen einen damaligen Kompanieführer Anklage erhoben werden kann und damit Entscheidungen anderer Instanzen aufgehoben werden. Bei dem Verbrechen in dem Bergdorf Sant’Anna di Stazzema im August 1944 hatte die Waffen-SS 560 Menschen erschossen oder mit Handgranaten umgebracht.

„Das ist ein Riesenerfolg“, sagte die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke in Stuttgart zu der Entscheidung. Sie vertritt den Vorsitzenden der Organisation der Angehörigen und Überlebenden des Verbrechens, Enrico Pieri.

Sie hoffe, dass jetzt unverzüglich Anklage gegen den 93-jährigen Hamburger erhoben werde. Er habe jahrelang unbehelligt in Hamburg gelebt, obwohl er in Italien bereits zu lebenslanger Haft wegen vielfachen Mordes verurteilt worden sei. Auslieferungshaftbefehle der Italiener seien erfolglos geblieben. Die Hamburger Staatsanwaltschaft ist nun für den Fall zuständig.

Leben in Volksdorf

Das Abendblatt hatte bereits im Jahr 2010 über die möglichen Verwicklungen von Gerhard Sommer in das Verbrechen berichtet. Er soll bis heute in Volksdorf leben. Sommer selbst ist zu keinem Gespräch bereit. In Volksdorf ist er ein bekannter Mann. Bis vor einigen Jahren wurde er dort oft auf der Straße gesehen.

2005 verurteilte das Militärgericht von La Spezia zehn deutsche ehemalige SS-Soldaten zu lebenslanger Haft - in Abwesenheit. Keiner von ihnen hat die Strafe angetreten; deutsche Staatsangehörige können nur mit ihrer Zustimmung ausgeliefert werden. 2002 hat die Staatsanwaltschaft Stuttgart Ermittlungen gegen neun der zehn Verurteilten von La Spezia aufgenommen, darunter auch gegen Gerhard Sommer. Anklage hatte sie aber bis dahin nicht erhoben. Die Strafverfolgung wegen Totschlags war bereits verjährt; in Betracht kommt allenfalls eine Bestrafung wegen Mordes.

Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler sah damals keinen hinreichenden Tatverdacht - und den bräuchte es für die Anklageerhebung. Heinecke, die den Opferverband von Sant'Anna als Nebenkläger vertritt, hielt bei Sommer das Mordmerkmal des niedrigen Beweggrundes für gegeben: "Das Militärgericht hat doch festgestellt, dass er als Befehlshaber verantwortlich war. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass die alten Männer, die Frauen und Kinder, die auf dem Kirchplatz von Sant'Anna abgeschlachtet wurden, irgendetwas mit Partisanen zu tun hatten."

Erzwingung der Anklage beim OLG beantragt

Die Karlsruher Richter wischten mit ihrem Beschluss nun frühere Bescheide der Staatsanwaltschaft Stuttgart und der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart vom Tisch. Die Staatsanwaltschaft hatte 2012 die Ermittlungen eingestellt, weil den damals noch 17 in Deutschland lebenden Beschuldigten keine Morde hätten nachgewiesen werden können. Die Überlebenden erhoben Beschwerde dagegen, die aber von der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart 2013 verworfen wurde.

Dagegen hatten die Angehörigen-Anwältin und ihr Mandant, der das Massaker im Versteck überlebt, aber seine ganze Familie verloren hatte, eine Erzwingung der Anklage beim OLG beantragt. Der Kompaniechef ist einer von fünf Beschuldigten, die der Antrag ursprünglich betroffen hatte. Diesem gab das OLG nur im Fall des Befehlshabers Recht: Es bestehe die Wahrscheinlichkeit, dass der Offizier wegen Mordes oder zumindest wegen Beihilfe dazu verurteilt werde. Dabei stützen sich die Richter des 3. Strafsenats nach eigenen Angaben auf Aussagen von Zeugen sowie historische Gutachten.

Diese legten nahe, dass der Beschuldigte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zur Tatzeit Führer einer SS-Panzergrenadierkompanie gewesen war. Als solcher sei er mutmaßlich am Tattag in Sant’Anna di Stazzema im Einsatz gewesen. Somit müsse er an der Ermordung vorwiegend von Frauen und Kindern beteiligt gewesen sein. Die Richter zweifelten auch nicht daran, dass Befehle und Einsatzplanung auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung gerichtet und dem Beschuldigten bekannt waren. Zudem sei der Mann verhandlungsfähig.

Dagegen hatte die Staatsanwaltschaft 2012 argumentiert, das Ziel des Einsatzes hätte auch die Bekämpfung von Partisanen und die Ergreifung arbeitsfähiger Männer sein können. Die Erschießung der Zivilisten könne auch erst erfolgt sein, als dieses Ziel nicht erreicht war. Die bloße Teilnahme an einem solchen Einsatz könne keinen strafbaren Tatbeitrag begründen.

Rückenwind hatte die Behörde von Landesjustizminister Rainer Stickelberger (SPD) erhalten. Er sagte damals: „Auch wenn dieses juristische Ergebnis menschlich unbefriedigend ist, sehe ich keinen Raum für eine Weisung des Justizministeriums, Anklage zu erheben.“