In Flensburg hatte man ein gutes Auge für starke Boxer. Beide Brüder haben in der Wiking-Halle gekämpft. Der Beste war Wladimir. Ein kleiner Ort ist die Keimzelle für den Erfolg der Klitschko-Brüder.

Der kleine Trick mit Klitschko, er funktioniert. Norbert Zewuhn hat ihn schon mehrfach angewandt, immer mit dem gleichen Effekt. Wenn er am Telefon mit Kunden spricht und sich als Allianz-Generalvertreter aus Handewitt vorstellt, dann wissen einige die Gemeinde an der Grenze zu Dänemark mit den Flensburger Bundesliga-Handballern in Verbindung zu bringen.

Dann sagt Zewuhn: „Aber wussten Sie auch, dass Handewitt die Keimzelle für den Erfolg der Klitschkos ist?“ Weiß fast keiner. Schon hat man ein Thema, Zewuhn erzählt, wie das damals war mit ihm und den berühmten ukrainischen Box-Brüdern, und die Versicherung verkauft sich fast von selbst. Wer die Klitschkos kennt, wird schon keinen Murks anbieten.

Norbert Zewuhn, 64 Jahre alt und längst nicht mehr der Mittelgewichtler, als der er Anfang der 1970er-Jahre norddeutscher Boxmeister war, ist ein Verkaufsprofi. Keiner von denen allerdings, die ihre eigene Großmutter verscherbeln würden, sondern einer, bei dem man sich später fragt, zu welchem Zeitpunkt des Gesprächs man eigentlich den Kaufvertrag unterschrieben hat.

Klitschko erste Erfahrungen waren in Handewitt

Und weil ihm niemand das Gegenteil beweisen kann, ist die Geschichte von der Keimzelle ein legitimer Kniff, denn es stimmt ja: Wladimir Klitschko, der Dreifachweltmeister im Schwergewicht, der seine Titel an diesem Sonnabend (22.10 Uhr/RTL) in der Hamburger O2 World gegen den Bulgaren Kubrat Pulev verteidigt, hat seine ersten Erfahrungen in seiner Wahlheimat Deutschland in Handewitt gemacht.

Eines Vormittags steht Zewuhn in Handewitts Wiking-Halle, die der Hausmeister extra für ihn aufgeschlossen hat, und erinnert sich an alte Zeiten. Die Luft ist so stickig, wie es in Schulturnhallen üblich ist, die Belüftungsrohre sind nicht in Betrieb. „Hier sieht es noch genauso aus wie damals“, sagt Zewuhn, und das glaubt man sofort.

Damals, im Herbst 1995, als Wladimir Klitschko erstmals für den BC Sparta Flensburg in der Box-Bundesliga in den Ring stieg, war Zewuhn Vereinsvorsitzender, und Andrej Sliwinski war Cheftrainer. Der 52-Jährige, der bei der Flensburger Brauerei in der technischen Instandhaltung arbeitet, ist ebenfalls zum Ortstermin gekommen, um über das berühmteste Vereinsmitglied zu erzählen.

Flensburg war Hochburg des Amateurboxens

Wie so viele Geschichten begann auch diese mit einem Zufall. Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre war Flensburg eine wahre Hochburg des bundesrepublikanischen Amateurboxens. Der vor zwei Jahren verstorbene Erwin Pophal hatte als Sparta-Vereinspräsident Verbindungen in alle Welt aufgebaut und internationale Spitzenstaffeln zu Vergleichskämpfen an die Flensburger Förde gelockt. Mit dem Bauunternehmer Harald Uhr gab es einen Großsponsor, der vom deutschen Meistertitel träumte. Mit diesem reiste Zewuhn, der 1993 Pophal nach dessen Schlaganfall als Clubchef abgelöst hatte, im Mai 1995 zu den Amateurweltmeisterschaften nach Berlin. Man suchte einen starken Schwergewichtler für die Bundesligamannschaft.

Im Finale des Superschwergewichts siegte der Russe Alexej Lezin gegen einen Ukrainer namens Vitali Klitschko. Lezin, das war schon vorher klar, durfte die russische Nationalstaffel auf keinen Fall verlassen. „Aber Harald sagte: ‚Diesen Klitschko, den will ich haben!’“, erinnert sich Zewuhn. Eine Stunde später saß man mit dem Boxer und Vertretern des ukrainischen Verbands im Restaurant, einige Verhandlungsrunden und 10.000 US-Dollar Ablösezahlung später hatte man Klitschkos Unterschrift, im August stand der Neue in einem Vorbereitungskampf gegen Bayer Leverkusen schon für Flensburg im Ring.

Dass der erste auch sein letzter Auftritt gewesen sein sollte, ahnte niemand. Wegen einer alten Beinverletzung war Vitali Klitschko in der Ukraine zu einem Arzt gegangen, der ihm zur Heilung ein auf der Dopingliste stehendes Steroid verschrieb. Bei einer Dopingkontrolle im September 1995 flog das auf, der Athlet wurde gesperrt und aus dem ukrainischen Team für die Olympischen Spiele 1996 in Atlanta geworfen. Und plötzlich brauchte man in Flensburg auf die Schnelle einen neuen Schwergewichtler.

Klitschko hatte für Aufsehen gesorgt

Nun kam Sliwinski ins Spiel. Über einen Bekannten hörte er, dass in der polnischen Liga bei Legia Warschau ein junger Mann für Aufsehen gesorgt hatte, ebenfalls Ukrainer. Der sei frei und interessiert, in Deutschland zu kämpfen. Auf Nachfrage wurde Sliwinski der Name genannt: Wladimir Klitschko. „Wir wussten bis dahin nicht, dass Vitali einen Bruder hatte, der auch boxt“, sagt Sliwinski.

Ende Oktober holte Norbert Zewuhn den 19 Jahre alten Neuzugang vom Hamburger Flughafen ab. „Als ich ihn sah, war ich total baff. Er sah genauso aus wie Vitali, hatte das gleiche kantige Gesicht, den gleichen Körperbau“, sagt er. „Aber er hatte die bessere Technik“, sagt Sliwinski, der am steifen Kickboxstil des fünf Jahre älteren Bruders nie hat Gefallen finden können. Zewuhn erinnert sich noch gut an die Autofahrt nach Flensburg, an seine mühsamen Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, „aber bis auf ,Bitte‘ und ,Danke‘ sprach Wladimir kein Deutsch und auch kein Englisch, und ich konnte kein Russisch. Es wurde also eine recht schweigsame Fahrt.“

Wladimir Klitschko denkt mit großer Freude an diese Tage zurück. „Für mich war Flensburg ein großes Abenteuer, eine tolle Erfahrung und der Start in mein Leben in Deutschland. Deshalb war die Bundesliga eine wichtige Etappe in meiner Karriere. Es war das erste Mal, dass ich aus dem Schatten meines großen Bruders treten konnte. Ich konnte die Sprache nicht, das Land war mir fremd. Aber die Menschen waren sehr herzlich, haben mich großartig aufgenommen, und über das Training und den Sport habe ich schnell Anschluss gefunden“, sagt er.

Wladimir lernte unheimlich schnell

Immens beeindruckt waren die Spartaner, die sich vor der Saison 1995/96 in Boxclub (BC) Flensburg umbenannten, von der schnellen Auffassungsgabe ihres neuen Mannes. „Wladimir lernte unheimlich schnell, und was mich am meisten begeisterte, war seine positive Einstellung zum Training. Er kam immer gut gelaunt zur Arbeit“, sagt Zewuhn, und Sliwinski bestätigt das: „Die meisten Boxer kamen kurz vor Trainingsbeginn in die Halle, trainierten, schnackten und waren wieder weg. Wladimir war immer schon weit vor Beginn da, erwärmte sich, machte sein Stretchingprogramm, und er war der Letzte, der die Halle verließ. Er wusste genau, was er wollte und was er brauchte. Solche Sportler sind es, die es in die Spitze schaffen.“

Zewuhn und Sliwinski sind allerdings nicht so vermessen zu sagen, dass sie schon damals geahnt hätten, Entwicklungshelfer für einen Weltstar zu sein. „Wir wussten doch selbst nicht, was für einen Glücksgriff wir da durch Zufall getätigt hatten“, sagt Zewuhn. Man wollte, um das aus 15 Boxern in neun Gewichtsklassen bestehende Mannschaftsgefüge nicht zu stören, die drei zugelassenen ausländischen Boxer nicht als Stars verkaufen.

Zwar verdiente Klitschko als Schwergewichtler 2000 D-Mark pro Kampf und damit doppelt so viel wie die Kämpfer in den weniger populären kleinen Gewichtsklassen. Aber er hatte, bis auf drei vom Verein bezahlte Heimflüge pro Saison, keinerlei Sonderstatus. Gegessen wurde bei McDonald’s. „Um ein Auto zu bekommen, mit dem ich zum Training fahren konnte, habe ich lange mit Harald Uhr verhandelt“, erinnert er sich. Am Ende bekam er einen roten Opel Rekord – und war hochzufrieden.

Klitschko wurde zum K.-o.-König der Bundesliga

Mit dem Fliegengewichtler Wardan Zakarjan, der später als Trainer in Hamburger Universum-Profistall arbeitete, verstand er sich auf Anhieb bestens, weil der Armenier ihm bei allen Alltagsproblemen als Dolmetscher assistierte. Im Sparta-Boxgym, das auf 300 Quadratmetern unter dem Dach eines Altbaus in der Harrisleer Straße untergebracht war und heute längst nicht mehr existiert, übten die beiden Freunde oft gemeinsam. Im Stadion von Flensburg 08, das ganz in der Nähe von Klitschkos Einzelapartment in der Eiderstraße im Stadtteil Mürwik lag, absolvierten sie selbstständig ihr Lauftraining. „Die beiden erinnerten mich mit ihrem Größenunterschied an Pat und Patachon“, sagt Zewuhn.

Seine Sonderklasse wies der 198 Zentimeter große und damals lediglich 91 Kilogramm schwere Athlet im Ring allerdings sehr bald nach. Klitschko wurde zum K.-o.-König der Bundesliga – und das, obwohl er vor seinen Kämpfen ein Nervenbündel war. „Er wurde abwechselnd blass und rot im Gesicht, manchmal weinte er fast und kam von der Toilette kaum runter“, erinnert sich Sliwinski, der 1984 selbst deutscher Meister im Federgewicht war.

„Aber im Ring war er eine Naturgewalt. Vielleicht auch, weil er zu große Angst hatte, selbst k. o. zu gehen, schlug er seine Gegner so schnell wie möglich zu Boden.“ In seinem Heimdebüt in der Wiking-Halle gegen Halle (Saale) knockte Klitschko den deutschen Star Timo Hoffmann nach 38 Sekunden aus – und war von da an der Held des fachkundigen Flensburger Publikums.

Klitschko gewann 1996 die Olympia-Goldmedaille

Zehn Kämpfe absolvierte Klitschko in jener Saison für die Flensburger, die am Ende Dritter wurden. Neun davon gewann er vorzeitig, den zehnten nach Punkten gegen den Schweriner Litauer Gitas Juskevicius, obwohl er selbst der festen Überzeugung ist, alle zehn Kämpfe durch Knock-out entschieden zu haben. Zewuhn hat noch das Originalformular, mit dem er Wladimir Klitschko bei der Krankenversicherung anmeldete. 105 Mark betrug der Monatsbeitrag, nicht viel eigentlich für einen Boxer mit erheblichem Verletzungsrisiko. Klitschko benötigte die Versicherung nicht ein einziges Mal. „Er war einfach zu gut“, sagt Zewuhn.

Als Klitschko Anfang August 1996 von den Olympischen Spielen in Atlanta als Goldmedaillengewinner zurückkehrte, ahnten die Flensburger Macher, dass es schwer werden würde, den neuen Star zur Erfüllung seines auf zwei Jahre angelegten Engagements zu überreden. „Wir hätten ihn natürlich gern noch ein Jahr unseren Fans präsentiert, aber er hätte in der Bundesliga keine Gegner mehr gehabt“, sagt Sliwinski. Das Angebot des Hamburger Universum-Profistalls, der seinen Cheftrainer Fritz Sdunek schon in der vorangegangenen Bundesligasaison als Spion geschickt hatte, überraschte niemanden. „Als Ablöse erhielt ich zwei Eintrittskarten für den ersten Profikampf der beiden Klitschkos“, sagt Zewuhn und grinst schelmisch. Für 35Mark je Ticket saß er in der Wandsbeker Sporthalle auf der Tribüne, als die Brüder am 16. November 1996 ihre Profikarrieren starteten.

Der persönliche Kontakt ist längst abgeebbt. Als 2011 der Film über das Leben der Klitschkos, in dem auch Zewuhn und Sliwinski zu Wort kommen, in Essen Weltpremiere feierte, trafen sie sich zum bislang letzten Mal. Wladimirs Kämpfe haben sie jedoch alle live im Fernsehen verfolgt; sie bewundern die Kraft, mit der er sich 2004 nach der verheerenden Niederlage gegen Lamon Brewster zurückkämpfte. „Das schaffen im Schwergewicht nur die ganz Großen“, sagt Andrej Sliwinski.

Sie waren die Startrampe für Klitschkos Karriere

Der Coach hat heute keine Verbindungen mehr zum Boxen, den BC Flensburg, der 1997 mit der deutschen Vizemeisterschaft den größten Erfolg feierte, 1998 aber Insolvenz anmelden musste und sich in die Oberliga zurückzog, gibt es nicht mehr, die Boxsparte ist nun bei DGF Flensburg beheimatet. Norbert Zewuhn, der mindestens 50.000 D-Mark aus privaten Mitteln investierte, um die Glanzzeiten des Vereins zu ermöglichen, denkt dennoch oft an diese verrückte Saison 1995/96 zurück.

Und er ist überzeugt davon, dass sie in Flensburg einen kleinen Teil des großen Erfolgspuzzles beanspruchen dürfen. „Wenn Wladimir nicht bei uns geboxt hätte, wer weiß, ob er dann jemals in Deutschland gelandet wäre. Deshalb rühmen wir uns schon damit, die Startrampe für Klitschkos Karriere gewesen zu sein. Und ein paar Versicherungsverträge mehr habe ich dank ihm sicherlich auch verkauft.“

Hat also wirklich gut funktioniert, dieser kleine Klitschko-Trick.