Der unterschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm gewann die Deutschen Meisterschaften in Ulm überdeutlich. Wegen seiner Karbon-Prothese wird Rehm bereits als „deutscher Oscar Pistorius“ bezeichnet. HSV-Athlet Bayer zürnt.

Ulm. Markus Rehm hörte gar nicht mehr auf zu strahlen, doch nach seinem sportlichen Märchen ist schnell ein Richtungsstreit um den unterschenkelamputierten Weitspringer entbrannt: Fliegt der Blondschopf trotz oder wegen seiner Karbon-Prothese so weit? „Ich glaube, ich habe weder einen Vorteil noch einen Nachteil. Die Prothese ersetzt, was ich nicht mehr habe“, sagte der Leverkusener, nachdem er Geschichte geschrieben hatte. In der Diskussion um den „deutschen Oscar Pistorius“ geraten die Verbände in Verlegenheit.

Weitspringer Rehm, Paralympics-Sieger von 2012, gewann in Ulm als erster Springer mit Handicap den deutschen Meistertitel bei den Nicht-Behinderten und verbesserte seinen Weltrekord um 29 Zentimeter auf 8,24 m. Zudem überbot der 25-Jährige die Norm von 8,05 m für die Europameisterschaft in Zürich (12. bis 17. August) deutlich - nur vier Athleten in Europa sind in diesem Jahr überhaupt weiter gesprungen. „Er hat die Norm geschafft und kann nominiert werden“, sagte Thomas Kurschilgen, Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV).

Ob Rehm tatsächlich in Zürich springen darf, muss am Ende der europäische Verband entscheiden. Auf Anfrage wollte sich die EAA zu dem Fall zunächst nicht äußern und verwies auf kommende Gespräche mit dem DLV und dem Weltverband IAAF in den nächsten Tagen.

Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) hat die Nominierung für die Europameisterschaften vom 12. bis 17. August in Zürich unterdessen um einen Tag auf Mittwoch verschoben. Dies teilte der DLV am Sonntag mit. Der Verband will noch die Ergebnisse der biomechanischen Messungen der Weitsprünge des behinderten Markus Rehm abwarten.

Die biomechanische Analyse soll Aufschluss geben, ob die Beinprothese des unterschenkelamputierten Rehm ihm einen Vorteil im Wettstreit mit den Athleten ohne Handicap verschafft haben könnte.

Der Europäische Leichtathletik-Verband (EAA) hatte am Sonntag Rehms Ulmer Siegerweite von 8,24 Meter in der europäischen Bestenliste veröffentlicht. Der 25-Jährige wird als zweitbester Deutscher auf Platz fünf geführt. Christian Reif (Rehlingen), der hinter Rehm Vizemeister wurde, steht mit 8,49 Meter an zweiter Stelle. Europas Nummer eins im Weitsprung ist der Brite Greg Rutherford mit 8,51 Meter.

Rehm ist längst zu einem Politikum geworden. Während sich Ex-Europameister Christian Reif, der hinter dem neuen Konkurrenten mit 8,20 auf Platz zwei landete, positiv äußerte, heizte Titelverteidiger Sebastian Bayer die Diskussion um ein etwaiges Technik-Doping durch einen Katapulteffekt bei Rehm an. „Die Prothese ist gefühlte 15 Zentimeter länger als das andere Bein. Meine Beine sind beide gleich lang“, sagte der Hamburger, der als Fünfter (7,62 m) ein Debakel erlebte, über Rehms Sprungbein.

Verbandschef glaubt an Ausnahmequalitäten

Rehm gab zu, dass seine Prothese „drei, vier Zentimeter“ länger ist als sein gesundes Bein. „Sonst würde ich beim Anlaufen humpeln“, sagte der Orthopädietechniker, der selbst an den Einstellungen seiner Prothese feilt. Diese sei aber „größtenteils“ aus Standardteilen gebaut. Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes, glaubt nicht an einen unerlaubten Vorteil. „Markus ist einfach ein Welt-Ausnahmeathlet“, sagte er.

Alle Beteiligten geraten auch deshalb in Verlegenheit, weil Rehm in Ulm nur unter Vorbehalt starten durfte - bis endgültig geklärt ist, ob er durch seine Prothese einen Vorteil hat oder nicht. Biomechaniker haben während des Wettkampfes Daten erhoben, um zu analysieren, ob seine Leistungen mit denen der anderen Springer vergleichbar sind. Wann die Wissenschaftler ihre Ergebnisse vorlegen werden, steht noch nicht fest. Der DLV strebt für die Zukunft eine Art TÜV für Prothesen an, um Leistungen vergleichbar machen zu können. „Da haben wir geschlafen“, sagte Weitsprung-Bundestrainer Uwe Florczak und kritisierte, dass die Frage schon vorher hätte geklärt werden müssen.

„Ich weiß um das Problem und verstehe die Diskussion. Ich möchte einfach Klarheit haben“, sagte Rehm, der mit 14 Jahren beim Wakeboarden in den Main stürzte und dessen Beine von der Schiffsschraube eines Motorbootes zerfetzt wurden. Die Ärzte konnten seinen rechten Unterschenkel nicht retten. Heute hat der Modellathlet in der paralympischen Klasse längst keine Gegner mehr.

Rehms Situation erinnert stark an den Fall des doppelt amputierten Oscar Pistorius. Der Südafrikaner klagte 2008 vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS in einer Einzelfallentscheidung erfolgreich sein Startrecht für Wettkämpfe der Nicht-Behinderten ein und lief schließlich sogar bei den Olympischen Spielen 2012 in London. Ein juristisches Hickhack, um seinen Start in Zürich einzuklagen, schloss Rehm allerdings aus. „Ich vertraue den Analysen des DLV“, sagte er.