Der HSV-Leichtathlet kämpft bei den deutschen Meisterschaften um einen neuen Vertrag – und gegen einen Paralympicssieger: Mit Markus Rehm läuft erstmals ein behinderter Springer bei nationalen Titelkämpfen an

Hamburg. Der Weitsprung gehört bei deutschen Leichtathletik-Meisterschaften zu den attraktivsten Wettbewerben. Auch an diesem Sonnabend kommt es im Ulmer Donaustadion von 15.17 Uhr an wieder zum Duell zweier Europameister, zum Showdown zwischen dem amtierenden, Sebastian Bayer, 28, vom HSV, der 2012 in Helsinki gewann, und seinem Vorgänger Christian Reif, 29, vom LC Rehlingen, der 2010 in Barcelona siegte. Beider Bestweite beträgt 8,49 Meter. Nur ein Deutscher sprang im Freien jemals weiter, Lutz Dombrowski aus Zwickau bei seinem Olympiasieg 1980 in Moskau: 8,54 m.

Diesmal gilt Bayer und Reif jedoch nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit. Mit Markus Rehm, 25, läuft erstmals ein behinderter Springer bei nationalen Titelkämpfen an, und mit seiner Bestweite von 7,95 Meter aus dem vergangenen Jahr scheint der Leverkusener durchaus in der Lage, virtuell bei der Verteilung der Medaillen mitzumischen – auch wenn seine Leistungen vorerst unter Vorbehalt in die Wertung eingehen. Mit 7,87 Metern liegt der Paralympicssieger von London 2012 derzeit auf Rang fünf der deutschen Jahresbestenliste, die Reif (8,49 m) vor Bayer (8,05 m) anführt.

Für Bayer bleibt Rehm ein sensibles Thema. Der Gedanke der Inklusion gefällt prinzipiell auch ihm, jetzt aber muss er sich einem Wettkampf stellen, von dem selbst der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) nicht genau weiß, ob er fair ist. Deshalb sagt Bayer erst einmal lieber nichts.

Rehm war vor elf Jahren nach einem Unfall als Wakeboarder der rechte Unterschenkel amputiert worden. Weit springt er mit einer Prothese, an die er eine Feder aus Carbon schraubt. Der beidseitig amputierte Südafrikaner Oscar Pistorius durfte mit diesem Hilfsmittel in London erst bei den Olympischen, dann bei den Paralympischen Spielen starten. Bei der WM 2011 in Daegu (Südkorea) hatte er über 400 Meter das Halbfinale erreicht, mit der 4x 400-Meter-Staffel seines Landes zog er ins Finale ein. Derzeit steht Pistorius in Johannesburg vor Gericht, weil er seine Freundin ermordet haben soll.

In Ulm will der DLV nun mit dem Deutschen Behindertensport-Verband untersuchen, ob der Vorwurf des Techno-Dopings bei Rehm zutrifft. Gemessen werden Parameter wie Anlaufgeschwindigkeit, Schrittlänge, Absprungdruck und Absprungwinkel. Sie werden verglichen mit den Daten der Fußgänger. In einem Jahr soll das Gutachten vorliegen. Rehm hat registriert, dass viele seine Weiten mit Skepsis begegnen. Dass manche aus seiner Behinderung einen Vorteil konstruieren wollen, hält er für absurd. „Die Prothese ist kein Motor“, sagt er dann, „ich bekomme von ihr nur die Energie zurück, die ich mit meiner Muskelkraft erzeuge.“ Er jedenfalls freue sich vorbehaltlos auf den Leistungsvergleich in Ulm.

Bayer kämpft auch um seine Zukunft

Bayer dagegen kämpft dort nicht nur gegen unterschiedliche Konkurrenz, auch um seine Zukunft. Die Norm für die EM in Zürich (13.–17. August), 8,05 Meter, hat er zwar exakt erfüllt, und er geht auch fest davon aus, im legendären Stadion Letzigrund springen zu dürfen, doch am 30. September läuft sein Zweijahresvertrag beim HSV aus. Ob dieser bis zu den Olympischen Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro verlängert wird, ist nach der Ausgliederung der Fußballabteilung aus dem Verein kein Selbstgänger mehr. „Wir haben diese Problematik auf dem Schirm“, sagt Carl Jarchow, der Präsident des HSV e.V., „im Sinne des Athleten hoffe ich, dass wir schon im August eine gute Lösung finden.“

Oliver Voigt, Abteilungsleiter der HSV-Leichtathleten (800 Mitglieder, 24 Trainer), sieht in der Causa Bayer einen möglichen Präzedenzfall, wie der HSV als Gesamtverein künftig funktioniert: „Es wäre ein merkwürdiges Signal, wenn wir jetzt, wo alles im HSV besser werden soll, bei den Leichtathleten plötzlich den Leistungssport einstellen müssten.“ Rund 75.000 Euro kosten die vier Spitzensportler den Club im Jahr, neben Bayer sind es Weitsprungkollege Mario Kral, Hürdensprinter Helge Schwarzer und Weitspringerin Nadja Käther. Die eigene Sponsorensuche gestaltet sich für die Abteilung schwierig. Voigt: „Der HSV sichert seinen Partnern zu Recht Branchenexklusivität zu, aber es gibt eben kaum eine Branche, die nicht mit dem HSV wirbt.“

Sebastian Bayer, der erst im Mai aus Mannheim nach Hamburg zog, – um hier zu bleiben – kann die Gedanken an seine Zukunft nicht wegschieben, er ist indes Profi genug, um sie in den nächsten für ihn wichtigen Wochen auszublenden. „Ich wünsche mir möglichst schnell Planungssicherheit für Rio, ich verstehe allerdings auch sehr gut, dass der HSV im Moment andere Probleme hat als mich.“ Wenigstens sei er bislang halbwegs verletzungsfrei durch die Saison gekommen, und seine Trainingsleistungen, sagt er, lassen ihn auf größere Sprünge hoffen. Ein Wettkampftyp ist Bayer ohnehin. Bei Meisterschaften brachte er stets seine besten Leistungen, egal, wer gegen ihn antrat.

Deutsche Leichtathletik-Meisterschaften im Fernsehen: Sonnabend, 14.45–17 Uhr, ZDF live; Sonntag, 16.30–18.30 Uhr, ARD live.