Die 93 Jahre alte Inge-Brigitte Herrmann aus Preetz bei Kiel will den Tischtennis-Titel holen. Aus ihrem Trainingsraum in ihrem Wohnheim reist sie ans andere Ende der Welt.

Preetz. Inge-Brigitte Herrmanns Trainingsstätte ist eigentlich nichts für feine ältere Damen. Die 93-Jährige tippelt los hinunter in den Keller ihres Altenheims in Preetz bei Kiel und warnt: „Der ist nicht sehr fotogen.“ Zwischen Heizungsrohren und einem ausrangierten Elektrorollstuhl zeigt sie auf ihre hochgeklappte Tischtennisplatte. Aus ihrer Handtasche lugt der dick umwickelte Griff ihres Schlägers hervor. Ihre 30 Bälle trägt sie im blauen Karstadt-Papptütchen. Normalerweise schmettert die dreifache Urgroßmutter hier ab und an mit einem Pfleger ein paar Bälle. Für den Fototermin mit dem Abendblatt muss die Reporterin als Sparringspartnerin herhalten, bei Schummerlicht und stickiger Luft. Nach 20 Minuten gerade erst richtig in Schwung, lässt Frau Herrmann auch den jungen Fotografen richtig alt aussehen. Dabei trägt sie Bluse, Perlenkette und Gesundheitsschuhe. „Man sagt mir nach, dass ich eine sehr scharfe Vorhand spiele“, meint sie kichernd. „Böse Zungen behaupten sogar, ich sei ehrgeizig.“

Mit Blick auf die Weltmeisterschaft der Tischtennissenioren in Neuseeland (12.–17. Mai) stapelt sie aber ziemlich tief. „Es gibt ja nur eine Ü85-Konkurrenz. Und das sind sieben Japanerinnen und eine Chinesin, und alle sind 85“, beklagt sie sich. „Also: Dabei sein ist alles.“

So, Trainingseinheit im Keller beendet. Nun gibt es Nescafé und Himbeerkuchen. Frau Herrmann, Jahrgang 1921, geht flotten Schrittes voran in ihr Appartement im dritten Stock. Sie ist die Einzige, die im Haus am Klostergarten in einer eigenen Wohnung lebt. Wenn man durch die Eingangstür geht, baumelt und funkelt gleich links im Flur an der Wand ihre gesammelte Medaillenausbeute: Locker 40 Plaketten hängen dort. Zu jeder gibt es eine Geschichte: „Die hier von der EM in Liberec ist aus Glas, weil diese Region in Tschechien berühmt ist für ihr Glas.“ Eine andere Medaille stammt vom Karneval. Und, ach ja, daneben glitzert das Edelmetall von der Weltmeisterschaft in China 2010 – Gold im Doppel und Bronze im Einzel. Ihre größten Erfolge.

Die Nationalspieler Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov zahlen den Flug

Aber auf China blickt sie auch ein bisschen traurig zurück: Damals trat sie im Doppelfinale gegen die inzwischen verstorbene Australierin Dorothy De Low an, „the Grand Old Lady of Pingpong“, vom Guinnessbuch als weltweit älteste Tischtennisspielerin verifiziert. De Low wurde mit dem Rollstuhl an die Platte herangeschoben und durfte sich deshalb daran festhalten. „Das ist ja eigentlich ein Fehler“, erklärt Frau Herrmann. „Zuletzt haben Dorothys Kinder ihr verboten zu spielen. Sie war ja schon 103“, erzählt sie. „Nun ist ‚Dot‘, so haben wir sie alle genannt, im Januar gestorben.“ Also: „Deswegen gelte ich jetzt als älteste Tischtennisspielerin der Welt.“

Und wie De Low ist Inge-Brigitte Herrmann, die am 9. April ihren 93. Geburtstag gefeiert hat, schon ein kleiner Medienstar. „Meine drei Töchter haben neulich gesagt: ‚Wir haben jetzt eine berühmte Mutter.’“ Es begann mit einem Auftritt im „Kölner Treff“ des WDR, dann folgten Einladungen vom NDR „Sportclub“ und von der „NDR Talk Show“. „Aber am schönsten war’s bei Frank Elstner“, schwärmt sie. Sie greift in ihre Fernsehkommode. „Hier, ich leihe Ihnen die DVD von der Sendung mal aus, Sie können sie mir ja zurückschicken.“

Am Kaffeetisch plaudert sie amüsiert aus: „Ich werde jetzt auch noch Filmschauspielerin.“ Sie blättert in einem Vertrag mit der Kölner Produktionsfirma The Beauty Aside. Die wird sie nach Neuseeland begleiten für einen Dokumentarfilm über ihr WM-Abenteuer. Praktischerweise bekommt sie so ihre hohen Reisekosten erstattet. Dabei hatten ihr vorher schon die Nationalspieler Dimitrij Ovtcharov und Timo Boll 2500 Euro für den Flug spendiert. Und das kam so: Im „Kölner Treff“ saß auch die Moderatorin Sabine Christiansen, die nicht glauben konnte, dass Frau Herrmann mühsam ihre Pension zu- sammenkratzen muss für diese Reise. „Sie meinte, man müsse doch einen Sponsor finden und machte Reklame für mich. Meine Absicht war das nie. Bald meldete sich der Deutsche Tischtennis-Bund bei mir ...“

Sie bedankte sich bei Ovtcharov und Boll. „Und Dimitrij hat mir auch geantwortet, mit ihm schreibe ich immer noch E-Mails. Er ist ein sehr netter junger Mann.“ E-Mails?! Ja, die Mittneunzigerin huscht an ihren Schreibtisch zu ihrem aufgeklappten Laptop und zeigt die Korrespondenz mit Ovtcharov in ihrem elektronischen Posteingang. Frau Herrmann, früher Sonderschullehrerin, gibt nämlich dreimal die Woche Computerkurse für Senioren. Ehrenamtlich. „Ich müsste als Beamtin ja sonst Steuern bezahlen“, merkt sie an.

Die umtriebige Seniorin ist außerdem die Vorsitzende des Bewohnerbeirats, also quasi die Sprecherin ihres Pflegeheims mit immerhin 163 Betten. Wenn sie dort die Gänge entlangeilt, gibt es an jeder Ecke ein großes Hallo. Die gebürtige Berlinerin („Ich bin eine waschechte Berliner Pflanze“) zückt ihren kleinen braunen Kalender und zeigt auf ihre vielen Termine. Frau Herrmann musiziert auch in einer Orff-Gruppe. Sie hat übrigens mal beim Komponisten Carl Orff höchstpersönlich in Salzburg gelernt und wurde von ihm ziemlich zusammengefaltet, weil sie immer ihre Einsätze an der großen Pauke verpasste. Aber das ist eine andere Geschichte. Wie sie eigentlich mit Tischtennis angefangen hat?

„Ach, ich habe ganz früher wohl mal mit meiner Schwester auf dem Esstisch Pingpong gespielt. Oder später, als ich Lehrerin war, mit meinen Schülern auf dem Schulhof. Aber richtig angefangen habe ich erst mit 76.“ Und wie kam das? „Da muss ich etwas weiter ausholen: Nach dem Tod meines Mannes wurde ich sehr schwer krank und bin lieber ins Heim gezogen. Aber sie haben mich wieder gesund gepflegt. Und das mit dem Tischtennis fing bei einem Ausflug nach Fehmarn an. Die alten Leute wollten immer einen Mittagsschlaf machen. Ich aber nie. Auf einem Platz stand eine Tischtennisplatte. Ich habe unseren Fahrer gefragt, ob er spielen könne. Er hat Ja gesagt, also habe ich zwei Schläger und ein paar Bälle gekauft, und wir haben losgelegt. Das hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich zu Hause nach einem Verein gesucht habe.“ Seither spielt die quirlige Rentnerin bei den Freien Turnern Preetz. Immer am Montagabend geht sie zum Gruppentraining in eine Sporthalle. Ist sie denn in Bestform für die WM? „Nein, eigentlich bin ich nicht so richtig topfit. Ich habe Nackenprobleme. Altersbedingt.“ Nur müde lächeln kann sie über die jungen Fußballer, die ständig wegen Wehwehchen hinfallen.

Zur EM 2015 nach Schweden will Inge-Brigitte Herrmann auch noch

Sie lacht, dass ihre Schultern beben. Ihr Lachen ist ein Herzensöffner. Frau Herrmanns Lebensfreude ist ansteckend. Genauso wie ihre Reiselust. Auf der Tischdecke liegt auch ein Prospekt des Tischtennisreisebüros Scharff. „Mit denen bin ich schon befreundet.“ „Schauen Sie mal“, sie schlägt die Auckland-WM-Seiten auf, „ich hänge die ,Nordinsel für Eilige‘ hintendran. Auf den Spuren der Maori.“ In Neuseeland war sie noch nie, in Australien dagegen schon fünfmal. Jetzt läuft Inge-Brigitte Herrmann in ihr Schlafzimmer. Dort zeigt die kleine Frau auf eine riesige Weltkarte an der Wand – über und über mit kunterbunten Fähnchennadeln bedeckt. „Da war ich überall schon.“ Ob New York, Grönland oder Spitzbergen. Und hat sie denn nach Neuseeland noch ein Turnier- und Reiseziel? „Och ja, die EM in Finnland 2015 würde mich schon noch reizen.“