Mit dem US-Athleten Tyson Gay und dem Jamaikaner Asafa Powell sind zwei der weltbesten Sprinter als Betrüger aufgeflogen. Welchen Stars der Leichtathletik darf man noch trauen? Ist Powells Fitnesstrainer schuld?

Es gibt Menschen, die bei der ersten gemeinsamen Begegnung überraschen, weil an ihnen etwas so ganz anders ist als vermutet. Tyson Gay ist so ein Mensch. Furchterregende Muskelberge türmen sich an seinen Armen und seinem Nacken, der Blick aus dunklen Augen wandert unstet umher, seine Physiognomie erinnert an ein Raubtier, das jederzeit bereit ist loszurennen. Wenn Tyson Gay aber beginnt zu sprechen, dann könnte der Kontrast größer kaum sein: Seine Stimme ist sanft, fast schüchtern, irgendwie unsicher.

Sonntag hat Amerikas schnellster, erfolgreichster Sprinter der Gegenwart in einer Telefonkonferenz zu verschiedenen internationalen Medien gesprochen. Was er zu berichten hatte, trieb seine Stimme in die Nähe von Tränen. In einer Dopingkontrolle vom 16. Mai wurde ihm in der A-Probe ein verbotenes Mittel nachgewiesen, nach Analyse der B-Probe droht ihm wohl eine mindestens zweijährige Wettkampfsperre. Für den 30-Jährigen könnte das dem Karriereende gleichkommen.

Was Gay zu sagen hatte, ist bemerkenswert. Denn als Erklärung bot er dies an: „Ich habe keine Sabotage-Geschichte. Ich habe keine Lügen. Ich habe nichts, was dies so aussehen lassen könnte wie einen Irrtum oder dass jemand Spielchen mit mir spielt. Ich habe keine dieser Storys.“ Stattdessen sagte Gay: „Ich habe schlicht mein Vertrauen in jemanden gesetzt und bin fallen gelassen worden.“

Wenn das stimmt, dann weiß Gay in etwa, wie sich all die fühlen, die ihm vertraut haben in den vergangenen Jahren. Die geglaubt haben, dass der US-Amerikaner nur kraft seiner Natur und klugen Trainings zum dreimaligen Weltmeister aufgestiegen ist und zum schnellsten 100-Meter-Sprinter dieses Jahres. Und die nun erkennen müssen, dass Gay nicht besser ist als viele andere, die vor ihm versucht haben, auf dem Umweg illegaler Hilfsmittel als Erste ins Ziel zu kommen. Ben Johnson und Katrin Krabbe, Linford Christie und Tim Montgomery, Justin Gatlin und Marion Jones. Sprinter, die in der Lage schienen, die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit zu verschieben, nur um dann als einfache Betrüger entlarvt zu werden.

Leichtathletik stürzt in Glaubwürdigkeitskrise

Es war wohl Zufall, dass zeitgleich mit Gays Geständnis bekannt wurde, dass Ex-Weltrekordler Asafa Powell, 30, die Olympiasiegerin Sherone Simpson, 28, und Medienberichten zufolge auch der aktuell zweitschnellste Sprinter der Welt, Nesta Carter, 27, ebenfalls in A-Proben positiv getestet worden sind – auf Stimulanzien, deren Gebrauch allerdings nur im Wettkampf verboten ist. Dass all diese Ikonen des Sprints nun wie in einem Dominospiel gemeinsam umgefallen sind, stürzt die Leichtathletik knapp vier Wochen vor der Weltmeisterschaft in Moskau in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise. Im Raum steht nicht weniger als diese Frage: Wem von den angeblich schnellsten Menschen der Welt darf man noch über den Weg trauen?

Von den zehn offiziell schnellsten 100-Meter-Läufern der Geschichte ist nur einer unbehelligt geblieben von Dopingvorwürfen: Usain Bolt, 26, der Wundersprinter und sechsmalige Olympiasieger aus Jamaika, der Heimat von Powell, Simpson und Carter. Der vermeintlichen Wunderinsel in der Karibik, die bei den Sommerspielen 2012 in London fast alles abgeräumt hat, was es abzuräumen gab. Natürlich gibt es, wie in anderen Sportarten auch, besonders talentierte, besser trainierte oder genetisch bevorteilte Athleten. Dennoch sind die Leistungsunterschiede im Sprint besonders frappant. Der deutsche Meister Julian Reus, 25, sieht eindeutig eine „Zweiklassengesellschaft“: „Krass ist, wie sich der Sprint in den letzten 20, 30 Jahren und die Weltrekorde entwickelt haben – krasser als in anderen Sportarten. Von einst 9,95 Sekunden zu heute 9,58 Sekunden: Da liegen Welten dazwischen.“

Aber verläuft zwischen diesen beiden Welten auch die Grenze der Legalität – oder sind wir alle nur Zeugen eines Jahrhunderttalents? Tatsache ist, dass Usain Bolt keine der äußeren Merkmale aufweist, die auf Doping zurückzuführen wären: keine abnormen Muskelpakete, keine Akne, keine Zahnspange. Keine einzige Untersuchung seiner Blutwerte hat je einen Hinweis auf die Einnahme verbotener Substanzen geliefert. Das allein sei zwar kein unumstößlicher Beweis, sagt Mario Thevis, Profesor für Präventive Dopingforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln: „Aber Usain Bolt hat von seiner biomechanischen Grundausstattung her alles, was einen Ausnahmesprinter ausmacht.“

„Diese Art von Sport ist total versaut“

Werner Franke, der erfahrenste deutsche Dopingexperte, mag sich an der Legendenbildung nicht beteiligen. Der 73-Jährige hält „diese Art von Sport für total versaut, weil schon niemand an die Spitze kommt, der nicht drauf ist“. Viele Sprinter der Spitzenklasse würden ihr Trainingspensum durch Epo-Doping erhöhen. „Dann gibt's auch andere Zeiten. Man hat dann eben mehr rote Blutkörperchen, da kann man eine ganz andere Leistungsdichte aufweisen“, sagte Franke der Deutschen Presse-Agentur.

Die Bestzeiten von Gay, Powell oder Carter werden für Julian Reus wohl für immer unerreichbar bleiben. Reus’ persönlicher Rekord über 100 Meter liegt bei 10,09 Sekunden. Mit dieser Zeit hätte er im Weltrekordlauf von Usain Bolt im Sommer 2009 in Berlin (9,58 Sekunden) theoretisch gut fünf Meter Rückstand auf den Sieger gehabt. Einen angenehmen Nebeneffekt erkennt der Wattenscheider nun aber in den prominenten Dopingfällen in seiner Disziplin: „Für uns deutsche Sprinter ist es ein positives Zeichen, weil es unsere Leistung aufwertet.“

Powells Agent beschuldigt Fitnesstrainer

Powells Manager hat indes Fitnesstrainer Christopher Xuereb für den positiven Dopingtest verantwortlich gemacht. Der Kanadier habe dem Staffel-Olympiasieger von Peking eine Mischung aus mehreren Nährungsergänzungsmitteln und Spritzen verabreicht, sagte Powells Agent Paul Doyle der „New York Times“ (Dienstag). „Wir haben uns überlegt, was schief gelaufen sein kann und es war ziemlich klar, wo wir genauer hinschauen mussten“, sagte Doyle der Zeitung. Auch Powells Teamkollegin, die ebenfalls überführte Sherone Simpson, Olympia-Zweite von 2008, sei von Xuerebs Behandlungen betroffen.

„Er hat ihnen viele verschiedene Dinge gegeben und wir wissen immer noch nicht, was den positiven Test verursacht hat. Die meisten Ergänzungsmittel, die er verabreicht hat, dienten der Erholung oder Energiezufuhr während des Trainings“, so Doyle weiter.

Doyle äußerte seine Vorwürfe nur Stunden nach einer Polizeirazzia im italienischen Lignano Sabbiadoro, bei der am Montag in Powells Hotelzimmer unbekannte Substanzen gefunden wurden. Udines Polizei-Chef Antonio Pisapia bestätigte, dass auch Xuerebs Raum durchsucht wurde. „Wir analysieren die Substanzen derzeit. Es hat noch keine Verhaftungen gegeben und es wird noch gegen niemand ermittelt“, sagte Pisapia. Powell und Simpson warten auf die Analyse ihrer B-Probe. „Dieses Ergebnis hat mich in vielerlei Hinsicht absolut erschüttert“, hatte der 30 Jahre alte Powell erklärt.