Christian Schwarzer über die Krise des deutschen Handballs. Manche wüssten nicht, was sie anrichten, sagt der Weltmeister von 2007.

Hamburg. Für Christian Schwarzer, 43, ist es die Rückkehr nach Hause. Der Handball-Weltmeister von 2007 hat im Haus seiner Mutter in seinem alten Kinderzimmer im Hamburger Stadtteil Bergedorf für fünf Tage Quartier bezogen, während seine U19-Nationalmannschaft ein paar Hundert Meter weiter im Tagungshotel Commundo in der Nähe der S-Bahnstation Nettelnburg wohnt. Sein Team bestreitet an diesem Wochenende drei Testspiele gegen Dänemark im Hinblick auf die WM im August in Ungarn, das erste an diesem Freitag um 19 Uhr im Ladenbeker Furtweg. In dieser Halle hatte Schwarzer vor 34 Jahren als Zehnjähriger mit dem Handballspielen begonnen.

Hamburger Abendblatt: Herr Schwarzer, keiner weiß es besser als Sie: Wie ist es um die Zukunft des deutschen Handballs nach der verpassten Qualifikation für die Europameisterschaft 2014 bestellt?

Christian Schwarzer: Meine Aufgabe ist die etwas weitere Zukunft. Wir haben viele gute Jungs, vor allem im Jahrgang 1995. Die könnten uns aber erst in fünf, sechs Jahren in der A-Nationalmannschaft helfen.

Warum dauert es im Handball so lange? Unsere Fußball-Nationalelf besteht gefühlt vornehmlich aus 20-Jährigen?

Schwarzer:Ich bin schon froh, dass aus unserem vorigen Kader, den Jahrgängen 1992/93, sieben Spieler regelmäßig in der Bundesliga zum Einsatz kommen. Das ist der Weg, der ansteht: Dass alle unsere Junioren-Nationalspieler verlässlich Praxis auf höchstem Niveau erhalten. Wenn wir das schafften, wären wir ganz weit vorn. Talente haben wir nicht im Übermaß, aber genug.

Fällt der Übergang schwer, weil die körperlichen Voraussetzungen für eine Kontaktsportart wie Handball fehlen?

Schwarzer: Sicherlich gibt es im Kraftbereich noch Defizite. Viel wichtiger aber wäre die permanente Bereitschaft der Bundesligatrainer oder ihrer Assistenten, sich vormittags mit diesen Talenten zwei-, dreimal in der Woche individuell zu beschäftigen. Die technische Weiterentwicklung ist im Mannschaftstraining nur schwer zu leisten.

Das geschieht nicht?

Schwarzer: Es wird nicht in der Intensität gemacht, wie die Jungs das bräuchten. Auch wäre es zu begrüßen, wenn Spitzenclubs wie der THW Kiel an Position 15 oder 16 ihres Kaders deutsche Talente in ihr Team integrieren würden. Und warum könnten dann diese nicht in der zweiten Halbzeit eingewechselt werden, wenn die Mannschaft wieder mal mit zehn Toren führt?

Sind nur die Bundesligatrainer Schuld oder liegt es auch an der Anspruchshaltung der Spieler?

Schwarzer: Ich sehe auch ein Riesenproblem im Bereich der sogenannten Berater. Es darf nicht um 500 Euro mehr oder weniger im Monat gehen. Wichtig bleibt die Spielpraxis. Davon hängt die Entwicklung eines Talentes maßgeblich ab, neben der Bereitschaft kontinuierlich hart zu arbeiten und auf die eine oder andere Versuchung des Partylebens zu verzichten.

Wäre das Problem des Übergangs nicht schlagartig gelöst, würde die deutsche Junioren-Nationalmannschaft nach dem Vorbild anderer Ligen und Länder als unabsteigbarer 18. Verein in der Bundesliga spielen?

Schwarzer: Das ist in Deutschland nicht zu leisten, dafür geht es in der Bundesliga um zu viel Geld.

Wenn nur wenige Talente in der Bundesliga ankommen, ist das nicht auch ein Indiz dafür, dass die Basis zu klein ist?

Schwarzer:Natürlich ist die Auswahl an Begabungen weit geringer als im Fußball. Aber warum interessieren sich Kinder und Jugendliche für eine Sportart? Weil sie ihre Vorbilder im Fernsehen erleben. Deshalb ist das Verpassen der Olympischen Spielen 2012 und jetzt der Europameisterschaft ja so dramatisch. Handball findet plötzlich nicht mehr vor einem Millionenpublikum bei ARD und ZDF statt, sondern bleibt in den Spartensendern stecken. Es sind diese (Langzeit-)Effekte, die wie ein Rattenschwanz an solchen Misserfolgen dranhängen.

Dass Deutschland jetzt zweimal eine Qualifikation für internationale Meisterschaften verpasst hat, ist dass nur ein strukturelles Problem, oder muss sich auch der Bundestrainer hinterfragen?

Schwarzer: Das muss man sich immer. Aber ich denke, Martin Heubergers Weg ist der Richtige. Wir müssen die jungen Leute integrieren und fordern. Die Begleitumstände waren bei der entscheidenden Niederlage in Montenegro auch ungünstig, vor allem die Verletzung des Berliner Spielmachers Sven-Sören Christophersen und die Absage Michael Kraus’ vom HSV. Ohne dass ich diesen Gründen die Alleinschuld geben will.

Andere wollen gar nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen. Haben Sie dafür Verständnis?

Schwarzer: Ich weiß selbst, wie wenig Zeit für die Familie bleibt, und kann verstehen, wenn man das ändern will. Aber wenn ein 25-Jähriger nicht mehr will, kann ich das nicht nachvollziehen. Das ist nicht meine Philosophie.

Wird der Ruhm eines Spielers nicht über die Nationalmannschaft definiert?

Schwarzer: Genau das muss jeder Spieler wissen – aber auch jeder Verein. Seine guten finanziellen Verhältnisse sind dem Erfolg der Nationalmannschaft zu verdanken. Zu meiner Anfangszeit hat Handball live im Fernsehen gar nicht stattgefunden. Jetzt gibt es, zwei, drei, manchmal vier Spiele pro Woche zu sehen, weil die Nationalmannschaft den Sport groß gemacht hat. Sie ist das Dach. Wenn dieses Dach Löcher hat, regnet es auch auf die Vereine.

Auch der HSV hat trotz Champions-League-Sieg Probleme, Sponsoren zu finden. Verstehen die Vereine die Botschaft?

Schwarzer: Es gibt Clubs, die teilweise auch aufgrund wirtschaftlicher Zwänge, den Weg der Nachwuchsförderung gehen. Ich würde mir wünschen, dass auch die Spitzenvereine da umdenken. Böse gesagt interessiert es doch kaum jemanden, ob der HSV Champions-League-Sieger ist, sondern nur, was gerade mit der Nationalmannschaft passiert ist. Der HSV ist schon wieder vergessen, obwohl es erst drei Wochen her ist. Stattdessen liest man nur, dass der Handball in der größten Krise steckt.

Immerhin hat der HSV gerade Kevin Herbst als ersten Jugendspieler zum Profi gemacht. Glauben Sie, dass er sich durchsetzen kann?

Schwarzer: Voraussetzung ist, dass er bereit ist, auf Dinge zu verzichten und mehr zu investieren, konkret: zusätzliche Trainingseinheiten vormittags einlegt. Und er bräuchte Spielpraxis in der Dritten, besser in der Zweiten Liga.

Wird der nächste Bundestrainer Christian Schwarzer heißen?

Schwarzer: Diese Frage stellt sich nicht.

Wo würden Sie denn als Bundestrainer den Hebel ansetzen?

Schwarzer: Bei den Niederlagen gegen Montenegro hatte ich den Eindruck, dass der letzte Wille fehlte, diese Spiele zu gewinnen. In diesem Bereich brauchen gerade die jungen Spieler unsere Hilfe. Ich habe meinen Jungs erst am Mittwoch gesagt, was ich von ihnen erwarte, wenn sie mit dem Nationaltrikot auflaufen. Für die Wurfauswahl einiger Spieler in einer derart wichtigen Partie habe ich kein Verständnis. Da gibt es nur eins: Blutige Knie, Ball ins Tor. Da fange ich nicht mit einem Dreher an, der dann auch noch vorbeigeht. Mir wäre so etwas peinlich gewesen. So etwas muss Konsequenzen haben. Mit Kunstwürfen wie im Januar im WM-Viertelfinale gegen Spanien riskieren die Spieler den gesamten Mannschaftserfolg. Ich frage mich manchmal: Weiß jeder, was er zu tun hat und was alles dranhängt: das Halbfinale einer WM, die Qualifikation für eine EM? Wissen die Jungs, warum sie so viel Geld verdienen – weil sich nämlich andere jahrelang dafür den Hintern aufgerissen haben, den Sport dahin zu bringen, wo er ist? Oder ist ihnen das egal? Anscheinend ja.

Das Thema Kunstwürfe wurde von Heuberger wiederholt angesprochen.

Schwarzer: Die Frage ist, wie man das vermittelt.

Also doch ein Trainerproblem?

Schwarzer: Das muss man differenzieren: Wenn der Vereinstrainer alles laufen lässt, ist es für die Jungs ganz schwer, in der Nationalmannschaft den Hebel umzulegen. Spektakel ist schön und gut, wenn man hoch führt. Aber die beste Unterhaltung bleibt, wenn die Mannschaft gewinnt. Jede Nation hat vor uns den meisten Respekt, wenn wir unsere alten Tugenden in die Waagschale werfen, geradlinigen Handball spielen und das aufs Spielfeld bringen, was der Trainer gefordert hat.

Läuft man als junger Handballer heute Gefahr, in einem Paralleluniversum aufzuwachsen, in dem man sich um nichts mehr kümmern muss?

Schwarzer: Dieses Gefühl habe ich bei den Jungs manchmal. Die holen sich eine Flasche Wasser aus der Kiste und lassen sie irgendwo stehen. Oder sie ziehen sich ihr Tape vom Finger und werfen es auf den Boden. Die verhalten sich bei uns eben so wie in ihren Vereinen, wo ihnen ganz viel abgenommen wird. Ich wünschte mir, die Spieler wären auch für die kleinen Dinge verantwortlich. Jeder muss wissen, dass diese Kleinigkeiten genauso wichtig sind, wie Tore zu werfen oder zu verhindern.

Sind Sie wenigstens ein bisschen optimistisch, dass die Vereine umdenken und der deutsche Handball zu den Erfolgen aus Ihrer aktiven Zeit zurückfindet?

Schwarzer: Beim Fußball hat es ja auch geklappt. Die Leistungszentren, die Internate – wir stehen erst am Anfang der Entwicklung. Und weiter runter kann es im Grunde gar nicht gehen.