Zehn Monate nach dem Olympiasieg führt der Bergedorfer Eric Johannesen das Boot erstmals als Schlagmann zur EM. Johannesen ist sich bewusst, dass sich die Neuen vor allem an ihm orientieren.

Hamburg. Die Schattenseiten eines Olympiasiegs bekam Eric Johannesen in letzter Zeit häufiger zu sehen. Einige Prüfungen seines Wirtschaftsingenieursstudiums sind ziemlich danebengegangen. "Das erste Semester ist nicht optimal verlaufen", gibt Johannesen zu, "ich habe es wohl zu locker genommen." Inzwischen weiß er nicht nur, wie schwierig es ist, wieder zurückzufinden in den Lernmodus nach all den Jahren, in denen allein der Rudersport seinen Tag bestimmt hat und er nach jedem Training genug Zeit hatte, die Füße hochzulegen. Er weiß auch, dass er sein Studium ähnlich akribisch vorbereiten und ähnlich konsequent durchziehen muss wie eine große Regatta.

Die nächsten Klausuren will Johannesen im Herbst schreiben. Nach der WM in Südkorea (25. August bis 1. September), das war dem 24-Jährigen vom RC Bergedorf wichtig. Denn auch wenn er nicht mehr alles dem Sport unterordnet, sind ihm die Ziele nicht ausgegangen. Zum Beispiel die Europameisterschaften in Sevilla am kommenden Wochenende. Dort könnte Johannesen nach dem WM-Sieg 2011 und der Goldmedaille von London 2012 seine Titelsammlung mit dem Deutschland-Achter vervollständigen.

In jedem Fall wird er in Spanien die nächste Stufe seiner Karriere erreichen: Johannesen darf das deutsche Flaggschiff erstmals bei einer Meisterschaft als Schlagmann anführen. Kristof Wilke, der Taktgeber der vergangenen Jahre, hat noch zu großen Trainingsrückstand. "Nichts gegen die Leistung von Kristof, aber unser Ziel für die Zukunft muss sein, mehr als nur einen Schlagmann zu entwickeln", sagt Bundestrainer Ralf Holtmeyer.

Johannesen will das Vertrauen rechtfertigen: "Schlagmann zu sein ist natürlich eine Ehre, aber auch eine große Verantwortung. Alle anderen schauen ja auf dich." Anders als auf seinem alten Rollsitz im Mittelschiff muss er jetzt spüren, ob die Balance oder der Rhythmus im Boot stimmen, und gegebenenfalls reagieren. Und er ist überzeugt, dass er das kann, auch wenn die Premiere nicht sehr glücklich verlief. Bei der Hügelregatta in Essen Anfang des Monats konnte Johannesen nicht verhindern, dass der Deutschland-Achter erstmals nach viereinhalb Jahren und 36 Siegen wieder ein klassisches 2000-Meter-Rennen verlor. Hinter Großbritannien, Frankreich und Polen reichte es im Finale nur zu Platz vier.

Johannesen hat aus der Niederlage seine Schlüsse gezogen, genau wie aus den verhauenen Klausuren. Hier wie dort habe es an der Vorbereitung gemangelt: "Der Winter war extrem lang und hart, und für die meisten von uns stand nach London das Studium im Vordergrund." Immerhin kehren bei der EM Wilke und Maximilian Reinelt zurück, womit sich die Zahl der Olympiasieger auf vier verdoppelt - Steuermann Martin Sauer einmal ausgenommen. Zudem konzentrieren sich alle Teammitglieder bei der EM auf den Achter, Doppelstarts sind nicht vorgesehen. Johannesen kann den Unterschied schon spüren: "Wir haben im Vergleich zu Essen schon ein deutlich besseres Niveau." Kein Vergleich natürlich zum Olympiasieg, aber davor war der Aufwand auch ungleich größer. Holtmeyer beziffert den Trainingsumfang auf 60 Prozent des Vorjahrs. Das Formtief beunruhigt mich nicht weiter: "Man kann nicht über Jahre hinaus auf diesem hohen Niveau fahren, sonst nutzt sich das ab."

Die EM spielt in diesem Plan keine allzu große Rolle. Ihr Stellenwert lässt sich auch daran bemessen, dass die starken Briten auf eine Teilnahme verzichten. Holtmeyer sieht den Wettkampf eher als Ersatz für den Weltcup Ende März in Australien, den man aus terminlichen und finanziellen Gründen ausgelassen hat. Der Bundestrainer gab vorsorglich eine Gewinnwarnung heraus: "In den anderen Nationen ist der Umbruch in der Mannschaft nicht so groß wie bei uns." Außerdem habe man den Sieg nicht gepachtet.

Bis 2014 will Holtmeyer eine Mannschaft gefunden haben, die stark genug ist, zwei Jahre später in Rio wieder um Gold zu rudern. Johannesen hat er in seinem Drehbuch eine Hauptrolle zugedacht, obwohl der Hamburger erst seit zwei Jahren zur Besatzung gehört: "Eric bringt Stabilität in eine Mannschaft, die noch nicht so stabil ist."

Johannesen hat die Führungsaufgabe angenommen. Er erzählt von "den Jungen" im Team, die "sehr wissbegierig" seien und denen er oft mit Ratschlägen zur Seite stehe. Johannesen ist sich bewusst, dass sich die Neuen vor allem an ihm orientieren. Schon deshalb wird er es nicht zu locker angehen.