Dünn sind sie noch immer, die Schmitts, Schlierenzauers und Ammanns, die sich bei der Vierschanzentournee aus großen Höhen waghalsig die Skisprungschanzen hinunterstürzen, um möglichst weit zu fliegen und am Ende auf einem der begehrten Podestplätze zu landen.

Doch das Gewicht der Sportler steht schon seit Längerem nicht mehr im Fokus der Öffentlichkeit. Es scheint fast so, als habe man sich an den Anblick kantiger Gesichter, knochiger Wangen und zarter Athletenkörper in kaschierenden Anzügen gewöhnt. Die Zeiten, in denen Springern Magersucht oder Bulimie, Radikaldiät und Hungerkur unterstellt wurden, gehören zumindest offiziell der Vergangenheit an. Auch deshalb, weil seit der Saison 2004/05 eine Body-Mass-Index-Regelung gilt, die den Hungerhaken der Szene die aerodynamischen Vorteile entziehen und die Attraktivität der Gewichtsreduzierung ein- für allemal aufheben soll.

Springer, die beim Wettkampfwiegen mitsamt Sprunganzug und Schuhen einen berechneten BMI-Wert von 20 unterschreiten und damit als untergewichtig gelten, müssen seitdem mit verkürzten Skiern springen und haben zumindest theoretisch keinen Wettbewerbsvorteil mehr. "Die Einführung der BMI-Formel hat die Tendenz zur extremen Schlankheit im Skispringen unterbunden und auf einem gesunden Niveau reglementiert", meint Walter Hofer, der Renndirektor des Internationalen Skiverbandes FIS.

Wissenschaftler und Sportmediziner sind von dieser These weniger überzeugt. Im Gegenteil. Sie weisen darauf hin, dass die Berechnung des Body-Mass-Index für die Auslese gesunder Sportler weitaus weniger aussagekräftig sei als ursprünglich angenommen. Nur hören will dies niemand.

"Die BMI-Formel im Skispringen verhindert sicherlich nicht, dass die Athleten vor Essstörungen sicher sind", sagt beispielsweise Dr. Ulrike Korsten-Reck. Die Oberärztin der Abteilung Rehabilitative und Präventive Sportmedizin am Universitätsklinikum Freiburg hat sich eingehend mit dem Tabu-Thema Anorexia athletica (siehe Infokasten), einer unter Leistungssportlern verbreiteten Sonderform der Essstörungen, auseinandergesetzt und weiß, dass Sportarten, die einen direkten Zusammenhang zwischen Leistung und Gewicht aufweisen, in vielen Fällen Essstörungen provozieren. "Insbesondere ästhetische Disziplinen mit ausgeprägten Schlankheitsidealen wie Turnen, rhythmische Sportgymnastik oder Eiskunstlaufen bergen ein Risiko für die Athleten", sagt sie.

Die Medizinerin warnt davor, den BMI-Wert als geeigneten Parameter für die Beurteilung des Gesundheitszustandes eines Sportlers heranzuziehen. "Im Skispringen gibt es noch immer viele Athleten, die angesichts ihrer Körpergröße zu dünn sind", sagt sie.

Unterstützt wird sie in ihrer Haltung von Professor Wolfram Müller. Der Grazer Wissenschaftler, der bei den Olympischen Winterspielen 2002 im Auftrag des IOC und der FIS alle Skispringer in Gewicht und Größe vermessen hat und darauf basierend die 2004 im Skispringen eingeführte BMI-Regelung initiierte, arbeitet mit einem Forscherteam derzeit an einer Verfeinerung des Index. Bis die neue Berechnungsformel eingeführt werden kann, wird allerdings noch einige Zeit vergehen.

Um den Wettbewerb im Skispringen bis dahin möglichst gerecht und für die Athleten gesundheitsförderlich zu gestalten, schlägt Müller vor, den unteren BMI-Grenzwert von 20 um einen Punkt nach oben zu setzen: "Wenn der Wert bei 21 läge, hätten auch etwas schwerere Springer eine größere Chance ganz vorne zu landen."

FIS-Renndirektor Hofer hält davon allerdings wenig und verweist darauf, dass eine Verschiebung der Formel lediglich dazu führe, dass die Diskussion auf einer höheren Ebene weitergeführt würde. "Dann gäbe es noch schwerere Springer, die ihrerseits eine weitere Hinaufsetzung des Index befürworten würden", meint der 53-Jährige. Eine solche Spirale fortlaufender Diskussionen wolle Hofer sich und den Athleten ersparen. Zumal nur zwei der vielen am Skisprung-Weltcup teilnehmenden Nationen eine Anhebung des BMI-Index forcierten, sagt er. Aus Sicht des Österreichers besteht kein Handlungsbedarf. Auch, weil der FIS kein einziger nachgewiesener Fall von Magersucht im Bereich des Skispringens vorliegt.

Diplom-Psychologe Andreas Schnebel, Vorsitzender des Bundesfachverbandes Essstörungen und Leiter der Münchener Hilfseinrichtung Anad, kann diese Einschätzung jedoch nicht teilen. In seine Münchener Praxis kehrte eine Reihe von Spitzensportlern zu Gesprächen ein, um sich in Sachen Magersucht oder Bulimie Rat zu holen. Einige von ihnen waren namhafte Skispringer. "Meist kamen sie zu einem ersten Gespräch. Doch auf eine Therapie haben sie immer verzichtet, weil ihre Manager ihnen davon abrieten", erzählt Schnebel, der eine Tabuisierung des Themas Essstörungen im Spitzen- und leistungsbezogenen Breitensport vor allem auf befürchtete Imageschäden und Sponsorenverluste zurückführt. "In Bereichen des Spitzensports geht es um viel Geld und natürlich auch um das transportierte Bild vom gesunden und leistungsfähigen Sportler", erklärt Schnebel. "Dieses Image soll unter allen Umständen aufrechterhalten werden - im Zweifel auch auf Kosten der Gesundheit eines Aktiven."

Was dies im Einzelfall für die Sportler bedeuten kann, weiß die ehemalige Eiskunstläuferin Mariana Patschinski, geborene Kautz. Die Olympia-Teilnehmerin und ehemalige Paarläuferin, die ihre Karriere 2003 beendete, hat im Laufe ihrer aktiven Zeit diverse Eiskunstläuferinnen kennen gelernt, die am ständigen Blick auf die Waage zerbrochen sind. "In den Umkleidekabinen wurde fast immer darüber getuschelt, wer nur ein Salatblatt gegessen oder wer ein paar Kilo zuviel auf den Rippen hat", erinnert sich Patschinski. Sie selbst habe zwar auf ihr Gewicht achten müssen und bei Familienfeiern keinen Kuchen essen dürfen, doch in die Falle von Magersucht oder Bulimie sei sie nie getappt. Anders als eine damalige Kameradin, die unter Essstörungen litt und diese gar nicht erst verheimlichte. "Dieses Mädchen hatte ihre Karriere kaum begonnen, da musste sie das Eiskunstlaufen auch schon wieder aufgeben, weil sie dem Teufelskreis des Magerwahns einfach nicht entfliehen konnte", erzählt Patschinski.

An ihrer Sportart gezweifelt hat die 28-Jährige trotzdem nicht. "Gewichtsdiskussionen gehören nun mal zum Eiskunstlauf", sagt sie. "Einerseits sollst du stark sein wie ein Bär und andererseits aussehen wie ein Vögelchen."

Dass einige Leistungssportler diese Diskrepanz, die für fast alle ästhetischen Sportarten zutrifft, sogar mit dem Leben bezahlt haben, ist längst kein Geheimnis mehr. Nur geredet wird in der deutschen Sportszene darüber noch immer ungern, weiß auch Dr. Ulrike Korsten-Reck: "Schätzungen zufolge gibt es eine große Dunkelziffer betroffener Sportlerinnen und Sportler, die Symptome einer Essstörung aufweisen, sich aber nicht behandeln lassen."

Eine Lösung dieser Problematik liegt ihrer Meinung nach jedoch nicht in der Einführung einer BMI-Formel oder anderen Berechnungsmechanismen. "Sinnvoll wäre es, in den ästhetischen Disziplinen und anderen gefährdeten Sportarten darauf zu achten, dass der Faktor Athletik wieder verstärkt in den Vordergrund sportlicher Leistungen gerückt wird", so die Freiburger Medizinerin.