Wolfgang Klein und Sebastian Bayer über die Entwicklungen in ihrer Disziplin, Doping, Teamgeist und Kolumnen aus dem olympischen Dorf.

Hamburg. Sie wussten schon lange voneinander, kannten sich aber bisher nicht persönlich. In Hamburg trafen sie sich nun das erste Mal: Dr. Wolfgang Klein, der ehemalige HSV-Präsident (1979-1987), und Sebastian Bayer, dreimaliger Leichtathletik-Europameister in der Halle und im Freien. Und beide verstanden sich auf Anhieb. Kein Wunder: Klein und Bayer sind beide HSVer - und sie sind beide von ihrem elften Lebensjahr an Weitspringer. Klein sprang als Zehnjähriger bereits 4,48 Meter, Bayer 4,30 Meter. Wolfgang Klein, heute 71 Jahre alt, startete 1964 in Tokio bei Olympia, wurde in Japan im Finale mit 7,15 Metern Zehnter.Bayer, 26, läuft in London am 3. (Qualifikation) und 4. August (Finale) zum zweiten Mal bei Sommerspielen an. 2008 in Peking scheiterte er in der Qualifikation. Diesmal gilt er als Mitfavorit.

Hamburger Abendblatt: Herr Klein, sind Sie noch sauer auf Sebastian Bayer?

Wolfgang Klein: Weil er mir vor zwei Jahren meinen Hamburger Rekord aus dem Jahr 1964 im Weitsprung entrissen hat? Ich hatte gehofft, dass er wenigstens 50 Jahre hält (lacht). Da wusste ich aber noch nicht, dass da einer wie Sebastian nach Hamburg kommt.

Sebastian Bayer: Ihre 7,90 Meter waren allerdings nicht so einfach zu knacken. Das war eine starke Weite. Kein Wunder, dass diese Marke so lange gehalten hat. Ich habe schon ein paar Anläufe gebraucht, um vor zwei Jahren endlich 8,06 Meter zu springen.

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Bei der Europameisterschaft Anfang Juli in Helsinki sind Sie bei 8,34 Meter gelandet. Ihre Bestmarke im Freien steht bei 8,49 Meter. Wie weit geht es in London?

Bayer: In Helsinki hatte ich gleich am Anfang des Finales zwei ungültige Sprünge, bei denen ich hauchdünn übergetreten war, die ungefähr bei achteinhalb Metern lagen. Schaffe ich die auch in zwei Wochen, und dann gültig, wäre ich sehr zufrieden.

Weil Sie dann Olympiasieger wären?

Bayer: Mit der Weite sollte es in London wahrscheinlich zu einer Medaille reichen. Damit beschäftige ich mich aber nicht. Ich akzeptiere, dass ich offenbar ein Medaillenkandidat bin - mehr Gedanken verschwende ich nicht an solche Träumereien. Wichtig ist, einen perfekten Sprung hinzubekommen, und nur darauf konzentriere ich mich. Über eine Medaille zu reden ist die eine Seite, eine dann auch zu holen eine ganz andere, weit schwierigere Sache.

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Herr Klein, bei Ihnen in Tokio lief es nicht gerade optimal.

Klein: Es goss wie aus Kübeln, und ich musste ohne Trainer und Betreuer ins Stadion. Bei der Qualifikation, nach der ich Sechster war, hatte ich mir eine leichte Zerrung in der Innenseite des Oberschenkels zugezogen. Vor dem Finale spürte ich beim Warmmachen wieder leichte Schmerzen. Aber es war kein Mannschaftsarzt oder Masseur vor Ort, was damals normal war, weil das Geld für einen größeren Stab fehlte. Ich bin dann zum französischen Arzt gegangen, der hat mich kurz untersucht und gesagt, ich sollte nicht springen, die Verletzung müsse ausheilen. Der Grund für seine Diagnose mag gewesen sein, dass noch drei französische Springer im Wettbewerb standen. Ich bin dann doch angetreten und wenigstens Zehnter geworden. Zurück im olympischen Dorf hat sich unser Mannschaftsarzt mein Bein angesehen und gemeint, es sei nichts Schlimmes. Er gab mir eine Spritze, alles war wieder in Ordnung. Nach Olympia habe ich noch ein paar Wettkämpfe gewonnen.

Bayer: Solche Zustände sind heute natürlich undenkbar. Die Betreuung, was Trainer, Ärzte und Physiotherapeuten angeht, ist inzwischen optimal. Und dann kommen noch all die Wissenschaftler hinzu, die jede Bewegung, jeden Anlauf, jeden Absprung, jede Landung vermessen. Natürlich ziehen mein Trainer Uwe Florczak und ich auch unseren Nutzen aus der Arbeit mit den Biomechanikern. Manchmal denke ich aber, weniger wäre mehr. Für mich ist es am allerwichtigsten, dass mein Körpergefühl stimmt. Und das ist objektiv nicht messbar. Dazu kommt: Es gibt unterschiedliche Typen, die man wissenschaftlich nicht unbedingt auf einen Bewegungsablauf hin standardisieren sollte. Oft läuft es, vereinfacht gesagt, doch so ab: Da springt jemand weit, alle schauen, wie er das wohl macht, und plötzlich sollen alle anderen Anlauf, Absprung und Landung technisch fast eins zu eins nachmachen. Der alles entscheidende, der nach oben wie nach untenlimitierende Faktor bleibt für mich aber das Bewegungstalent.

Klein: Mein Eindruck ist, dass sich im Weitsprung in den vergangenen 77 Jahren - seit Jesse Owens' Weltrekord 1935 mit 8,13 Metern - trotz besserer Ausrüstung, Kunststoffbahnen und wissenschaftlicher Begleitung bei den Weiten erstaunlich wenig getan hat. 7,90 Meter sind auch heute noch ein ordentliches Ergebnis, und Springer wie Sebastian, die mehr Talent als andere haben, gab es auch damals. Die sind auch zu meiner Zeit vor 50 Jahren schon weiter gesprungen als ich.

Bayer: Diese Beobachtung teile ich generell. Das Niveau ist vor allem in der Breite besser geworden. Heute gibt es viel mehr Achtmeterspringer als früher, aber Weiten um die 8,50 Meter sind immer noch eher selten.

Klein: Und Doping hilft Weitspringern ja auch nicht wirklich weiter. Mehr Muskeln und damit mehr Masse sind doch eher schädlich, oder die Effekte heben sich zumindest gegenseitig auf.

Bayer: Doping hilft schon, um weiter zu springen, schneller zu laufen oder weiter zu werfen. Sonst würden es ja nicht so viele Sportler machen. Es laufen zum Beispiel Leichtathletinnen rum, die haben Muskeln, von denen ich nur träumen kann. Und die haben kaum ein Gramm Fett am Körper, was bei Frauen mit normalem Training extrem schwierig zu erreichen ist. Ich will niemanden anklagen oder verdächtigen, aber bei einigen Leistungsentwicklungen innerhalb von nur kurzer Zeit macht man sich schon seine Gedanken.

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Dopingkontrollen scheinen also immer noch nicht optimal zu greifen.

Bayer: Sie greifen in Deutschland. Wir haben hier eine sehr hohe Kontrolldichte. Im Ausland habe ich da weiter meine Zweifel. Aber Doping käme für mich allein aus ethischen und medizinischen Gründen niemals infrage. Was wäre das für ein Triumph, wenn dahinter Betrug stecken würde. Darüber könnte ich mich nicht freuen. Ich bedauere nur, dass es anscheinend nicht jeder Sportler so sieht.

Herr Klein, bei Ihren 7,90 Metern 1964 bei einem Sportfest in Paris sollen Sie, wie man hört, gedopt gewesen sein.

Klein: Ja, das gebe ich heute offen zu. Ich hatte eine ungeheure Wut im Bauch. Der Wettkampf war für 15 Uhr angesetzt, wir hatten uns alle schon warm gemacht, als es plötzlich von den Organisatoren hieß: Der Weitsprung ist verlegt, wir wissen aber nicht, auf welchen Zeitpunkt. Wir sind dann alle zurück ins Klubhaus gegangen und haben gewartet. Da habe ich ein, zwei Bier getrunken, und als wir gegen Abend doch noch springen durften, hat mich der Zorn darüber, wie man uns behandelt hat, auf 7,90 Meter getrieben.

1964 war es das letzte Mal vor der Wiedervereinigung, dass eine gesamtdeutsche Mannschaft bei Olympischen Spielen antrat. Wie war damals Ihr Verhältnis zu den DDR-Sportlern?

Klein: Es gab keins, weil es keins geben durfte. Der Berliner Mauerbau vom13. August 1961 lag gerade drei Jahre zurück. Die Westdeutschen und die Ostdeutschen waren im olympischen Dorf in verschiedenen Blöcken untergebracht. Hinzu kam: Ich schrieb damals aus Tokio eine Kolumne für das Hamburger Abendblatt, über die gestörte Art der Beziehungen und den Druck, den DDR-Funktionäre auf ihre Sportler und deren Angehörige ausübten (Überschrift im Abendblatt am 7. Oktober 1964: "Das brutale Rezept der Zone zur olympischen Normalisierung im gesamtdeutschen Sport", die Red.) . Das war sogar der Aufmacher auf Seite eins. Einen Tag später hielten alle DDR-Sportler Kopien des Artikels in ihren Händen, und ihnen wurde klipp und klar gesagt: Mit dem, damit war ich gemeint, redet ihr kein Wort mehr und überhaupt nicht mit den Westdeutschen. Im Alltag sah das oft anders aus. Ich bin damals wiederholt in die DDR gefahren, um befreundete Sportler zu besuchen. Das geschah meist auf Schleichwegen, richtig konspirativ. Was man heute alles über die Aktivitäten der Stasi weiß, werden ihr diese Treffen aber kaum verborgen geblieben sein.

Herr Bayer, solche Kolumnen über den Zustand der Mannschaft wären heute nicht mehr möglich. Bei Olympia herrscht inzwischen eine strenge Zensur.

Bayer: Insofern, dass ich nichts über andere Sportler schreiben darf und keine Bilder zum Beispiel über das Treiben in der Mensa im olympischen Dorf ins Internet stellen darf. Erlaubt ist jedoch, dass ich mich über meine Befindlichkeiten äußern und meine persönlichen Erlebnisse schildern kann. Das tue ich in den nächsten Wochen auch in einem Blog für die ARD.

Was werden Sie uns über das Verhältnis zu den ostdeutschen Sportlern aus London berichten können?

Bayer: Wie gesagt, nichts. Das Leben der anderen geht mich nichts an. Grundsätzlich gibt es im Team diese Trennung zwischen West und Ost nicht mehr, zumindest nicht unter den Sportlern. Freundschaften werden geschlossen, ohne vorher einen Blick auf die Landkarte zu werfen. Ich habe die Stimmung in der deutschen Mannschaft zuletzt immer als sehr angenehm empfunden.

Alle sechs Teile der Olympia-Serie finden Sie unter www.abendblatt.de/olympia