Akribisch wie nie bereitet sich Vitali Klitschko auf seinen WM-Kampf gegen Shannon Briggs vor. Dabei wirkt er beweglicher denn je.

Going. Fünf Kilometer führt die Schotterstraße von der Gemeinde Going in Richtung des Gebirgsmassivs Wilder Kaiser hinauf, bis man eine kleine Holzhütte erreicht, die dort einsam auf einer Waldlichtung steht. Wer hier wohnt, der sucht - und findet - vor allem eins: Ruhe. In direkter Nachbarschaft zu einigen Mäusen, Mardern, Fröschen und Insekten hat diese Hütte derzeit nur einen Bewohner, und der hat sich die Einsamkeit ausgesucht, um sich perfekt vorzubereiten auf das, was ihn am 16. Oktober erwartet.

Vitali Klitschko, Schwergewichtsweltmeister des World Boxing Council (WBC) , wird an diesem Tag in der O2 World Hamburg seinen Titel gegen den US-Amerikaner Shannon Briggs verteidigen. Es ist der erste Kampf des 39 Jahre alten Ukrainers in seiner Wahlheimat seit elf Jahren, er freut sich darauf sehr, aber weil er sich als Berufsboxer mit seiner eigenen Firma KMG vermarktet, zudem dreifacher Familienvater ist und Chef einer Partei im Stadtparlament von Kiew, legt er Wert darauf, in den Wochen vor dem Kampf so ungestört wie möglich an seiner körperlichen Fitness arbeiten zu können.

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Ins Tiroler Promi-Hotel Stanglwirt, zu dem die kleine Hütte gehört, kommt er seit zehn Jahren. Die Abgeschiedenheit jedoch sucht er erst zum zweiten Mal, wie bereits vor seinem letzten Kampf im Mai. Nur zum Frühstück und zum Training fährt er ins Hotel im Tal. Sein Schlafzimmer liegt unter dem Dach, im Erdgeschoss hat er ein großes Wohnzimmer mit Flachbildfernseher und einer Massagebank, am geräumigen Esstisch finden acht Personen Platz, und in der offenen Küche kocht David Williams mittags und abends für Vitali und sein kleines Team.

Williams arbeitet seit fast sechs Jahren für Vitalis Bruder Wladimir, 34, der seine WM-Titel der Verbände WBO und IBF am 11. Dezember in Mannheim verteidigen wird. In Vitalis Team ist er seit einem Jahr, nachdem der Champion im gesetzten Alter von 38 beschloss, seine Ernährung umzustellen. Nun wacht Williams, der sein Promi-Restaurant in Los Angeles verkaufte, um nur für die Klitschkos arbeiten zu können, über die Nahrungsaufnahme des 2,02 Meter großen Athleten. Als Erstes verbot er ihm, zum Frühstück Smacks zu essen. Die klebrigen Honig-Pops sind Zuckerbomben und als Sportlernahrung nicht geeignet. Williams' Leitmotiv ist: wenig Salz, wenig Zucker, wenig Fett - viele Kohlenhydrate und Proteine. Er kocht nur mit marktfrischen Produkten, wobei Vitali im Gegensatz zu seinem Bruder, der auf rotes Fleisch als Energiequelle schwört, viel Fisch vertilgt - und sich nur gelegentlich einen Schokoriegel beim Koch klaut.

Der Wille, sich auf eine Ernährungsumstellung einzulassen, sagt viel über die Zielstrebigkeit aus, mit der Vitali Klitschko seine Vorhaben umzusetzen pflegt. "Das bewundere ich an ihm am meisten", sagt Trainer Fritz Sdunek, "dass er sich in Dinge verbeißen kann, wenn er sie sich vorgenommen hat." Sdunek kann die Veränderungen im Leben des Weltmeisters beurteilen wie kein Zweiter, schließlich arbeiten die beiden seit dem Beginn von Klitschkos Profikarriere im Herbst 1996 zusammen. Nachdem Vitali 2005 seine Karriere wegen anhaltender Verletzungsprobleme - Schultersehne kaputt, Kreuzbandrisse im Knie, Bandscheibenvorfälle - beendet und im Oktober 2008 ein triumphales Comeback gefeiert hatte, musste das Trainingsprogramm den neuen Bedürfnissen angepasst werden.

Um Rücken und Knie zu schonen, wird die Grundlagen-Ausdauer statt in Läufen jetzt im Schwimmbecken oder auf dem Fahrrad-Ergometer gelegt. Dreimal die Woche zieht Klitschko im Hallenbad des Nachbarorts St. Johann seine Bahnen, gestern simulierte er in einer einstündigen Einheit die Dauer eines Boxkampfes, indem er zwölfmal drei Minuten unter Maximalbelastung schwamm. "Ich trainiere heute viel zielgerichteter als früher, weil ich keine unnötigen Übungen mehr mache", sagt er. Sdunek glaubt, dass die lange Pause seinem Sportler ein besseres Verständnis für den eigenen Körper ermöglicht hat: "Früher hat er seine Einheiten nie analysiert. Heute nehmen wir jedes Sparring auf Video auf und werten es aus."

Auch in der Gesundheitsprophylaxe arbeitet Vitali Klitschko professioneller als vor der Auszeit. Mit Matthias Braunger hat er seit seinem Comeback einen Physiotherapeuten, der täglich rund eineinhalb Stunden mit ihm arbeitet. Neben speziellen Stretching- und Erwärmungsübungen für den Rücken gibt es Massage und bei Bedarf auch chiropraktische, kinesiologische oder osteopathische Behandlungen. "Vitali brauchte Zeit, um sich auf die Behandlungen einzulassen, jetzt vertraut er mir total", sagt Braunger, der für die zahlreichen Hinweise seines Klienten dankbar ist. "Vitali kennt seinen Körper in- und auswendig. Deswegen hat er derzeit ein Tape an der linken Wade, weil er dort ein Problem wittert."

Glaubt man Ola Afolabi, dann sind es Klitschkos Gegner, die ein Problem bekommen. Der nigerianische Cruisergewichtler ist seit 2002 regelmäßig als Sparringspartner engagiert, auch diesmal ist er im Stanglwirt dabei. "Vitali hat besonders die Beweglichkeit verbessert", sagt er. "Früher war er nur schnell auf den Beinen, heute auch mit den Händen, dem Oberkörper und dem Kopf. Für einen Mann seines Alters ist das außergewöhnlich."