Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat zum Auftakt des EM-Jahres einen herben Rückschlag hinnehmen müssen. Beim 1:2 gegen Ex-Weltmeister Frankreich war vom Zauberfußball des vergangenen Jahres nichts zu sehen, was auch nicht mit fehlenden Stammspielern zu erklären war.

Bremen. Ernüchterung statt Euphorie, Pfiffe statt Standing Ovations, harsche Kritik statt der üblichen Lobeshymnen: Das EM-Jahr 2012 begann für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft völlig anders, als das vergangene aufgehört hatte. Die DFB-Auswahl, im November nach der 3:0-Gala gegen die Niederlande noch in den Himmel gelobt, fiel nach dem 1:2 (0:1) gegen Frankreich in Bremen in Katerstimmung. Zu deutlich hatte die Equipe Tricolore dem WM-Dritten 100 Tage vor dem EM-Start in Polen und der Ukraine die Grenzen aufgezeigt - und dabei vor allem die deutsche Abwehr als Achillesferse entlarvt.

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„In der Defensive waren wir nicht stabil, da müssen wir mit Blick auf die EM noch einiges tun. Offensiv können wir auf einem sehr hohen Niveau spielen. Die Defensivarbeit ist aber noch nicht perfekt, das war schon in einigen Spielen des vergangenen Jahres nicht unbedingt das Gelbe vom Ei“, sagte Joachim Löw und erklärte, es bedürfe „noch vieler Trainingseinheiten“. Der Bundestrainer legte den Finger in die Wunde. Zwar stellte er eine gewisse Gelassenheit zur Schau, dass es angesichts der vielen Aussetzer in seiner Hintermannschaft aber in ihm brodelte, war deutlich zu spüren.

Die Tore von Olivier Giroud (21.) und Florent Malouda (69.) hatten die Schwächen der Gastgeber deutlich aufgedeckt. Ohne die Stammkräfte Philipp Lahm und Per Mertesacker fehlte der Viererkette Stabilität. Weder die Innenverteidiger Mats Hummels und Holger Badstuber noch die Außen Jerome Boateng und Dennis Aogo genügten den hohen Ansprüchen.

„Wir haben die deutsche Mannschaft genau analysiert und wussten um die eine oder andere Schwäche der Hintermannschaft“, berichtete Frankreichs stolzer Trainer Laurent Blanc. Die Defizite in der Abwehr des WM-Dritten sind anscheinend ein offenes Geheimnis und könnten auf dem Weg zum ersten Titel seit 1996 zum Fallstrick werden.

WM-Torschützenkönig Thomas Müller war bemüht, die löchrige Viererkette aus der Schusslinie zu nehmen, traf allerdings mit Selbstkritik ins Schwarze. „Wir waren alle undiszipliniert. In der zweiten Halbzeit hatten wir eine zweigeteilte Mannschaft. Wir haben die Verteidigung schön alleine gelassen und deshalb hinten sehr offen gestanden“, sagte der Münchner.

Dennoch lag das Hauptproblem in der Defensive, deren Schwächen durch die insgesamt guten Resultate im vergangenen Jahr und die optimale EM-Qualifikation möglicherweise übertüncht worden waren. Denn in den 13 Spielen 2011 war der dreimalige Welt- und Europameister nur gegen Kasachstan (4:0) und die Niederlande (3:0) ohne Gegentor geblieben.

Linksverteidiger Marcel Schmelzer sowie die an der Weser fehlenden Routiniers Lahm und Mertesacker sind hinten Alternativen. Ohnehin lässt sich der Bundestrainer nicht verrückt machen, denn solche Situationen ist der 52-Jährige, der gegen die Franzosen zudem auf Stammkräfte wie Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger verzichten musste, längst gewöhnt.

Vor der WM 2006 war das letzte Spiel vor der Nominierung in Italien mit 1:4 in die Hose gegangen, sein damaliger Chef Jürgen Klinsmann und damit auch Löw als Assistent standen kurz vor der WM im eigenen Land unter Beschuss. Und zu Jahresbeginn 2010 ging der Härtetest gegen Argentinien in München 0:1 verloren. Was folgten, waren sehr gute Turniere der deutschen Mannschaft mit jeweils dritten Plätzen.

„Unabhängig vom Ergebnis habe ich gewusst, woran wir bis zur EM noch arbeiten müssen. Ich weiß, dass wir eine gute Basis haben. Wir haben mit vielen, vielen guten Spielen die Erwartungshaltung angehoben. Aber im März sind schon viele Dinge passiert bei uns in den letzten Jahren. Was im März passiert, ist für den Trainer nicht so ausschlaggebend. Wir müssen eine gute Vorbereitung haben und dann beim Turnier topfit sein. Dann müssen alle Spieler auf einem Topniveau sein“, sagte Löw, der sich immerhin noch über den späten Anschlusstreffer durch EM-Wackelkandidat Cacau (90.+1) freuen durfte.

Keinen Grund zur Freude hatte dagegen Lokalmatador Tim Wiese, der auch nach seinem sechsten Einsatz im DFB-Trikot keinen Sieg feiern konnte. „Er konnte an den Gegentoren nichts machen. Ansonsten hat er aber eine gute Leistung geboten“, sagte Löw über den Bremer Schlussmann, der aber untröstlich war und wortlos mit grimmiger Miene sein „Wohnzimmer“ verließ.

Die Statistik

Deutschland: Wiese/Werder Bremen (30 Jahre/6 Länderspiele) - Boateng/Bayern München (23/20), Hummels/Borussia Dortmund (23/13), Badstuber/Bayern München (22/19) ab 46. Höwedes/Schalke 04 (24/7), Aogo/Hamburger SV (25/10) - Khedira/Real Madrid (24/25) ab 70. Lars Bender/Bayer Leverkusen (22/4), Kroos/Bayern München (22/25) - Reus/Borussia Mönchengladbach (22/4) ab 70. Cacau/VfB Stuttgart (30/22), Özil/Real Madrid (23/31), Schürrle/Bayer Leverkusen (21/12) ab 45. Müller/Bayern München (22/26) - Klose/Lazio Rom (33/114) ab 46. Gomez/Bayern München (26/51). - Trainer: Löw

Frankreich: Lloris/Olympique Lyon (25/31) - Debuchy/OSC Lille (26/3), Rami/FC Valencia (26/17), Mexes/AC Mailand (29/23), Abidal/FC Barcelona (32/61) - M Vila/Stade Rennes (21/18) ab 62. Malouda/FC Chelsea (31/74), Cabaye/Newcastle United (26/10) ab 62. Alou Diarra/Olympique Marseille (30/38) - Nasri/Manchester City (24/28), Valbuena/Olympique Marseille (27/10) ab 68. Amalfitano/Olympique Marseille (26/1), Ribery/Bayern München (28/57) ab 46. Menez/Paris St. Germain (24/10) - Giroud/HSC Montpellier (25/3) ab 76. Saha/Tottenham Hotspurs (33/20). - Trainer: Blanc

Schiedsrichter: Paolo Tagliavento (Italien)

Tore: 0:1 Olivier Giroud (21.), 0:2 Florent Malouda (69.), 1:2 Cacau (90.+1)

Zuschauer: 37.800 (ausverkauft)

Beste Spieler: Özil - Lloris, Valbuena

Gelbe Karten: Lars Bender - Mexes