Dopingfahnder werten das Urteil gegen Claudia Pechstein als Durchbruch - jetzt genügen schon Indizien. Kritikern fehlt der Schuldnachweis.

Den Tag, der ihr Leben verändern sollte, begann Claudia Pechstein wie jeden gewöhnlichen Mittwoch gegen zehn Uhr morgens im Sportforum Berlin-Hohenschönhausen. Bekleidet mit der Trainingsjacke der Nationalmannschaft von den Olympischen Winterspielen 2006 in Turin, drehte Deutschlands erfolgreichste Eisschnellläuferin ihre Runden, exakt 92 Minuten lang. Dann fuhr sie nach Hause in ihr Einfamilienhaus im brandenburgischen Diensdorf-Radlow am Scharmützelsee. Nervös sei sie schon, hatte sie am Vormittag ihren Gemütszustand beschrieben, "aber irgendwie auch gefasst auf das, was da kommen wird".

Es kam, wie es Pechstein nach den Mutmaßungen der vergangenen Tage erwarten musste. Der Internationale Sportgerichtshof (CAS) in Lausanne bestätigte die Zweijahressperre des Eislaufweltverbandes ISU. Der hatte der 37 Jahre alten Berlinerin am 3. Juli wegen auffälliger Blutwerte bis zum 9. Februar 2011 die Ausübung ihres Berufes untersagt.

Mit ihrem Schuldspruch, den sie auf 66 Seiten begründeten, schreiben die drei CAS-Richter, Massimo Coccia (Italien), Stephan Netzle und Michele Bernasconi (beide Schweiz), Sportgeschichte. Erstmals ist ein prominenter Athlet ohne einen einzigen positiven Dopingtest nur aufgrund von Indizien verurteilt worden.

Der Kampf gegen Doping hat damit ein neues wertvolles Instrument erhalten. Denn die bisherige Methode, ausschließlich positive Tests als Beweise heranzuziehen, hat die Fahnder zu oft verzweifeln lassen. Zu klein war das Zeitfenster, in dem sich fremde Substanzen im Körper der Athleten nachweisen ließen. John Fahey, Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada), sagt, jetzt könnten "verschiedene Strategien eingesetzt werden". Das Urteil sei "eine Ermutigung" für einen sauberen Sport. Dagmar Freitag (SPD), Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag, wertete: "Damit erfährt die Dopingbekämpfung eine qualitative Änderung."

Allerdings muss jeder Einzelfall anders bewertet werden. In der Causa Pechstein waren es zu hohe Retikulozytenwerte, die die Dopingfahnder schon vor Jahren auf die Spur der fünfmaligen Olympiasiegerin gebracht hatten. Veränderungen der Retikulozytenbildung (siehe Kasten rechts) gelten als starkes Anzeichen für leistungssteigernde Blutmanipulationen. Am 1. Januar dieses Jahres ließ die Wada schließlich eine indirekte Beweisführung zu. Die Akte Pechstein konnte geöffnet werden. Die Berlinerin aber beteuert bis heute ihre Unschuld: "Ich habe niemals gedopt." Es sei unglaublich hart, "dieses Urteil zu akzeptieren".

Das wird sie auch nicht tun. Ihr Anwalt Simon Bergmann kündigte an, sofort ein Verfahren vor dem Schweizerischen Bundesgericht in Lausanne anzustrengen. Diese Instanz hatte am 6. November ein Urteil des CAS kassiert, zum zweiten Mal seit der Gründung des Internationalen Sportgerichtshofs 1984. Der Berliner Eishockeyprofi Florian Busch (24) war am 23. Juni für zwei Jahre gesperrt worden, weil er im März 2008 eine Dopingprobe verweigert, sie aber verspätet - mit negativem Resultat - nachgeholt hatte. Laut Wada-Code wird ein verweigerter Test wie eine positive Probe behandelt. Zuvor hatte im April 2007 der argentinische Tennisprofi Guillermo Canas die Aufhebung eines CAS-Spruchs erreicht. Der Fall wurde vor dem Sportgerichtshof nachverhandelt, die Sperre verkürzt. Darauf darf auch Busch hoffen.

Bei Pechstein jedoch geht es nicht um mögliche Verfahrensfehler, sondern um eine Grundsatzentscheidung. "Ich habe das Pech, das Versuchskaninchen für die indirekte Beweisführung zu sein", klagt sie. "Wie man mich ohne Beweis, aufgrund eines einzigen Indizes, das zudem in der Wissenschaft höchst umstritten ist, sperren kann, wird für mich unbegreiflich bleiben."

Hat das Urteil Bestand, verpasst Pechstein im Februar 2010 nicht nur ihre sechsten Olympischen Spiele, ihr droht vor allem die Kündigung ihrer Stelle bei der Bundespolizei und der Rückzug aller Sponsoren. Das bisherige Verfahren hat sie rund 250 000 Euro gekostet. Allerdings soll Pechstein in ihrer langen Karriere etwa drei Millionen Euro verdient haben.

Urteile wie dieses scheiden die Geister. Die einen halten es für den Durchbruch im Kampf gegen Doping, die anderen für einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, die jedem rechtsstaatlichen Prozess zugrunde liegt. Sollte Pechstein gesperrt bleiben, können Sportler künftig schon bei verdächtigen Veränderungen ihres Blutbildes von der Sportgerichtsbarkeit belangt werden, ohne dass verbotene Substanzen in ihren Körpern nachgewiesen werden müssten.

Die gesamte Dopingfahndung steht vor einer neuen Qualität. Angeblich sollen in den Antidopinglabors rund 500 Proben des Eislauf-Weltverbands mit abnormen Blutwerten lagern. Weitere Sportverbände haben sich vorbereitet. Der Ski-Weltverband Fis, der Radsport-Weltverband UCI und andere Sportorganisationen haben Listen von auffälligen Athleten zurückgehalten, die nun zumindest genauer untersucht werden sollen. Eine Prozesslawine droht.

Im Fall Pechstein erklärten die Richter, die Eisschnellläuferin habe ihre Blutwerte "nicht in vertretbarer Weise" mit einer angeborenen Krankheit oder einer Blutabnormität erklären können. Der CAS stellte fest, "eine Manipulation des Blutes der Athletin stellt die einzige vernünftige Alternative für die Ursache ihrer abnormalen Werte dar". Das sieht der Heidelberger Molekularbiologe und Dopingbekämpfer Professor Werner Franke ähnlich: "Das Urteil überrascht mich nicht - insbesondere wegen der rhythmischen Korrelation der Werte mit ihren Wettkämpfen. So etwas gibt es in der Natur nicht." Auch für den Nürnberger Pharmakologen Professor Fritz Sörgel war der Fall "von Anfang an" klar: "Ich hatte nicht an eine Blutkrankheit geglaubt. Für alle, die an indirekten Beweisen forschen, ist das Urteil ermutigend. Es ist immer eine gewisse Unsicherheit dabei, aber diese ist im Fall Pechstein nach meiner Einschätzung sehr klein."

Der Heidelberger Sportrechtler Michael Lehner steht dagegen Pechstein bei: "Menschlich bleibt der Fall grenzwertig. Die Beweislastumkehr wurde angewendet, obwohl hier nur ein indirekter Dopingnachweis ohne Befund vorliegt. Da bleiben deutliche Restzweifel. Die ganzen medizinischen Untersuchungen, die Pechstein durchgeführt hat, hätte eigentlich die ISU durchführen müssen, und zwar vor der Verhängung der Sperre." Es gebe bisher "kein Anwendungsprotokoll, das genau beschreibt, wie der indirekte Nachweis zu führen ist". Der Fall stehe "auf sehr dünnem Eis".

Da sieht Thomas Bach anders. Der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) rückte nach der Urteilsverkündung von seiner früher stets geäußerten Unschuldsvermutung ab: "Doping mit dieser wissenschaftlichen Expertise kann von einer Sportlerin nicht ohne Hilfe von Fachleuten bewerkstelligt worden sein. Daher fordern wir Claudia Pechstein in ihrem wohlverstandenen Interesse zur Aufklärung auf. Die Hintermänner müssen bestraft werden."

Daran denkt Claudia Pechstein nicht. Sie ließ erst einmal ihre Reservierung für den Flug ins kanadische Calgary stornieren. Dort wollte sie am 4. Dezember beim Weltcup ihr Comeback geben. Dazu wird es wohl nicht kommen.