Bow-Weltmeisterin Susi Kentikian zeigte sich von der Geselligkeit der Armenier begeistert. Der Trubel um ihre Person war riesengroß.

Hamburg. Als Susi Kentikian das Flugzeug Richtung Eriwan bestieg, hatte sie eine große Portion Ungewissheit im Gepäck. Zum ersten Mal, seit sie als Vierjährige mit ihren Eltern nach Deutschland geflüchtet war, wollte die 21 Jahre alte Fliegengewichts-Weltmeisterin aus dem Hamburger Spotlight-Stall ihr Geburtsland Armenien besuchen. Kontakt zu den vielen Verwandten hatte es über die Jahre immer gegeben, einige waren in Hamburg zu Besuch gewesen. "Trotzdem wusste ich überhaupt nicht, was mich erwartet", sagt sie.

Seit einigen Tagen ist Kentikian wieder in Hamburg, und wer ihr strahlendes Gesicht sieht, wenn sie über das Erlebte berichtet, der glaubt ihr sofort, wenn sie sagt: "Diese Reise zu meinen Wurzeln war sehr wichtig und lehrreich für mich." Zuallererst war die Reise jedoch anstrengend. Gegen fünf Uhr morgens war die 153 cm kleine Powerfrau in Begleitung ihres Vaters Lewon in der Hauptstadt des im Bergland zwischen Georgien, Aserbaidschan, dem Iran und der Türkei liegenden Kaukasus-Staates gelandet und von einem Onkel ins Haus ihrer Großmutter in einem normalen Wohnviertel Eriwans gebracht worden. Vier Stunden später war bereits der erste Journalist vor Ort, obwohl die Weltmeisterin ihre Ankunft hatte geheimhalten wollen. Eine Tante hatte geplaudert. Nachdem das Interview samt Fotos am kommenden Tag erschienen war, gab es kein Halten mehr. Jeden Tag musste Kentikian Medienanfragen erfüllen. Vier Pressekonferenzen innerhalb von zwei Wochen wurden ihr und ihren Weltmeister-Kollegen Arthur Abraham und Vic Darchinyan, die ebenfalls im Land weilten, zu Ehren angesetzt, in drei landesweiten TV-Shows war sie zu Gast. Wo immer sie öffentlich auftrat, baten die Menschen um Fotos und Autogramme, manchmal waren es bis zu 1000 - und das, obwohl ihre Kämpfe bislang in Armenien nicht live zu sehen sind. Sogar bei Staatspräsident Sersch Sarkissian war Kentikian zu Gast, überreichte ihm ein handsigniertes Foto. "Mir ging der Rummel manchmal zu weit, aber mein Opa hat gesagt, die Termine seien wichtig, und da habe ich sie eben mitgemacht", sagt sie.

Der in Los Angeles lebende Opa Haik, den Kentikian im April auf der ersten Etappe ihrer Reise zu den Wurzeln besucht hatte, führte seine Enkelin in den wenigen freien Stunden zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt, die auf Kentikian einen sehr modernen Eindruck machte. Mit ihrer Cousine fuhr sie mehrmals nachts durch die Metropole. "Eriwan hat viele schöne Plätze mit historischen Gebäuden, aber auch Casinos und Einkaufszentren wie die Großstädte in den USA", sagt sie, "insgesamt war ich sehr positiv überrascht. Unerträglich war nur der Verkehr - an Regeln hält sich da niemand." Taxifahrten ohne Klimaanlage bei schwül-heißen 35 Grad waren für sie der größte Graus.

Die schönste Zeit hatte die Athletin im Kreise ihrer großen Familie. Mit drei jüngeren Cousinen teilte sie sich ein Zimmer; ins Hotel zu ziehen hatte sie abgelehnt. Besonderen Gefallen fand sie an den ausschweifenden, sehr fleischlastigen Essen an langen Tafeln, begleitet von unmäßigem Wodka- und Cognac-Konsum. "Alle fünf Minuten stand ein anderer Verwandter auf und stieß auf meine Gesundheit an. Ich habe immer nur genippt und mich gefreut, wie gesellig die Armenier sind", sagt sie.

Der nächste Besuch ist bereits für kommenden Sommer geplant. Kentikian will dann inkognito anreisen und versuchen, mehr vom Land zu sehen als Eriwan und den Sevan-See, in dem sie zweimal baden war. Eins ist ihr jedoch schon heute klar. "Ich habe realisiert, wie weit ich gekommen bin. Ich fühle mich in Armenien heimisch. Aber mein Zuhause ist Hamburg."