Die Polin Anita Wlodarczyk musste Weltrekord werfen, um die Deutsche zu stoppen. Nun fürchtet die Heldin die Rückkehr in den tristen Alltag ihrer Sportart.

Berlin. Zu klären wäre noch, ob Alan Cairncross sich mit Betty Heidler gefreut hat. Der Schotte ist Greenkeeper von Hertha BSC Berlin. Heidler hat ihn am 5. August kennengelernt. Sie war im Olympiastadion für ein Probetraining. Nach ihrem vierten Wurf beendete Cairncross die Einheit vorzeitig: Er hatte Angst um seinen Rasen, auf dem die Fußballer drei Tage später ihr erstes Bundesligaspiel austragen sollten. Verärgert fuhr Heidler zurück ins Bundesleistungszentrum Kienbaum.

16 Tage später war sie wieder im Wurfring des Olympiastadions. Diesmal wurde sie von Cairncross nicht gestört. Diesmal jubelten ihr 59 926 Zuschauer in ihrer Geburtsstadt zu nach einer Hammerwurfkonkurrenz, die es in dieser Intensität jedenfalls bei den Frauen noch nie gegeben hatte. "Ein Jahrhundertwettkampf", wie Heidlers Trainer Michael Deyhle schwärmte.

Fünf von sechs Versuchen der Titelverteidigerin wären gut genug für die Silbermedaille gewesen. Ihr letzter landete bei 77,12 Metern. Aber selbst dieser deutsche Rekord reichte nicht, weil Anita Wlodarczyk im zweiten Versuch mit 77,96 Weltrekord erzielt hatte. Wlodarczyk war ohne ihren Trainer nach Berlin gekommen. Sie hat sich vor einigen Wochen von ihm getrennt. "Seither wirft sie eine Bestleistung nach der nächsten", wundert sich Deyhle, "das geht eigentlich nicht." Vielleicht wäre sogar die 78-Meter-Grenze gefallen, hätte sich die Polin nicht beim Jubeln den Fuß verknackst.

"Wir hatten das ganze Stadion für uns, das gab es noch nie", sagte Heidler: "Das bedeutet mir mehr als Gold." Sie weiß, dass dieser Abend ihre Disziplin weiter nach vorn bringen könnte als ihr Titel in Osaka 2007. "Damals haben wir gedacht, dass wir viel Zulauf bekommen", erinnert sich Deyhle. Tatsächlich ist die Leistungsdichte in Deutschland nach dem Rücktritt der früheren Meisterin Susanne Keil eher zurückgegangen. Ein einziger Verein, die LG Eintracht Frankfurt, hält mit gleich drei Athletinnen Kontakt zur Weltspitze: Heidler (25), Kathrin Klaas (25), die sich auf 74,23 Meter steigerte und glänzende Vierte wurde, und Andrea Bunjes (33), die in der Qualifikation scheiterte. "Die drei sind nicht dickste Freundinnen, aber sie respektieren einander. Davon profitieren alle", sagt Deyhle. Dahinter kommt ein großes Nichts.

Die Lücke zu schließen ist schwierig, denn sie wird immer größer. Das Niveau sei in dieser jungen Disziplin enorm gestiegen, hat Deyhle beobachtet: "Die Frauen werfen im Moment technisch sogar besser als die Männer." Noch während des Finales justierte er das Drehmoment seiner Athletinnen. Zwei Spezialkameras hatte das Frankfurter Team im Stadion installiert - gegen Widerstände des Fernsehens. Sie zeichneten die Würfe mit 100 Bildern pro Sekunde auf. Die biomechanischen Informationen - Abwurfgeschwindigkeit, Abflugwinkel, Radius - wurden von der Trainingswissenschaftlerin Regine Isele vom Olympiastützpunkt Hessen am Monitor ausgewertet. Ihre Erkenntnisse glich Deyhle dann mit seinen Beobachtungen ab. So wurde etwa herausgefunden, dass Heidler anfangs "links zu passiv gearbeitet" habe. "Ich konnte diese Informationen von Wurf zu Wurf umsetzen", erzählte Heidler. Ein Heimvorteil, den die Konkurrentinnen so nicht hatten. Und sie hatte sich von ihrem Publikum durch den Wettkampf tragen lassen, weil sie Realistin genug ist zu wissen, "dass so ein wunderbarer Moment nicht wiederkommt".

Bald beginnt für die Vizeweltmeisterin wieder der Alltag einer Hammerwerferin. Bald bekommt sie es wieder mit Menschen wie Cairncross zu tun. "Die Fußballer lassen meistens gar nicht zu, dass wir auf den Rasen kommen", sagt Deyhle. Dabei seien die Löcher kein Problem: ausheben, ein Stück Rollrasen drauf, fertig. Einige hätten Angst, der Hammer könne jemanden verletzen. In der Männerkonkurrenz landete die Kugel einmal gefährlich nahe an der Laufbahn. Ein vermeidbares Risiko, wie der Trainer meint: Der Wurfring sei auf der falschen Seite platziert worden.

Und so gibt es kaum noch Gelegenheit für die Hammerwerfer, sich zu zeigen. Viele internationale Meetings seien weggebrochen. Für die Männer habe es gerade einmal die drei Wettkämpfe gegeben, die zwingend notwendig sind, um beim Weltfinale im September in Thessaloniki dabei zu sein. "Wer keinen Lobbyisten als Manager hat", sagt Deyhle, "der hat keine Chance."