Die HSV-Fans waren sich nach dem 2:1-Sieg gegen Werder Bremen einig. Auf dem Heimweg stimmten sie immer wieder Freudengesänge an. “Die Nummer eins im Norden sind wir“, klang es rund um den Volkspark aus hunderten ...

Hamburg. Die HSV-Fans waren sich nach dem 2:1-Sieg gegen Werder Bremen einig. Auf dem Heimweg stimmten sie immer wieder Freudengesänge an. "Die Nummer eins im Norden sind wir", klang es rund um den Volkspark aus hunderten Kehlen. Tatsächlich kehrte das Team von Trainer Martin Jol auf Rang fünf der Tabelle zurück und lässt Werder sechs Punkte hinter sich. Aber, und das erkannten selbst die größten HSV-Anhänger, der Erfolg konnte dennoch einige Schwachstellen nicht kaschieren. Ein Stärken- und ein Mängelbericht anhand von jeweils fünf Thesen:

Stärken

1. Das Team hat Siegermentalität

Trotz der spielerischen Unterlegenheit präsentierte sich der HSV gegen Werder auch in Hälfte zwei stets selbstsicher und zielgerichtet. "Wir haben an uns geglaubt", bestätigte Ivica Olic das Selbstbewusstsein. Mladen Petric, Olic und Co. sind sich unabhängig vom Spielstand stets der Tatsache bewusst, dass sie einen Torerfolg erzwingen können. Der Großteil der Mannschaft (vor allem Rost, Mathijsen, Benjamin, Reinhardt, Olic) untermauert dieses Wissen mit einer entsprechenden Körpersprache. Titeltauglichkeit: 100 Prozent.

2. Martin Jol ist kreativ Wer wegen der defensiven Mittelfeldsorgen mit einer Stabilitätsauflösung gegen Bremen rechnete, wurde vom Trainer des HSV mit einer taktischen Umstellung überrascht. Um keinerlei Zuständigkeitsmissverständnisse bei der Bewachung Diegos zu riskieren, bot Jol nur einen echten Abräumer vor der Abwehrkette auf: Alex Silva. Der niederländische Coach ließ mit Mittelfeldraute agieren, bot mit Ivica Olic, Mladen Petric und Paolo Guerrero zudem drei nominelle Spitzen auf. Dabei nahm Guerrero die Rolle des zentralen Offensivmannes im Mittelfeld ein, ähnlich Diegos Position bei Werder. Jol unterstrich mit diesem Schachzug die Vielseitigkeit seines Kaders. Titeltauglichkeit: 80 Prozent.

3. Der Angriff hat eine Treffergarantie "Wir können immer und gegen jeden Tore erzielen", sagte Trainer Jol schon vor einigen Wochen. Und dieser Behauptung ist nichts zu entgegnen. Mit Olic, Petric und Guerrero verfügt der HSV über erstklassige Stürmer, die auch internationalen Ansprüchen genügen, die zudem sehr verschiedene Stärken verkörpern. Kommt ein Angreifer (wie Petric gegen Bremen) nicht zur Geltung, können die anderen einspringen. Das macht die Mannschaft unberechenbarer. Nur gelegentlich sind die Stürmer, vor allem Olic, zu verspielt und halten den Ball zu lange, was unnötige Ballverluste in aussichtsreichen Positionen erwirken kann. Titeltauglichkeit: 90 Prozent

4. Die Mannschaft hat das nötige Glück Wenn Partien eng sind, der Augang von Kleinigkeiten abhängt, kommt auch dem Faktor Glück eine gewisse Bedeutung zu. Gegen Bremen hatte Jols Team das Glück des Tüchtigen, das sich nicht logisch erklären lässt. Bei den Bayern aus München sprach man jahrelang von dem berüchtigten "Bayern-Dusel". Das Siegtor gegen Bremen könnte man auch als "HSV-Massel" bezeichnen. Titeltauglichkeit: 90 Prozent.

5. Es gibt noch reichlich Steigerungspotenzial Ein verletzter Nigel de Jong neben Thimothee Atouba auf der Tribüne, ein gesperrter David Jarolim auch nicht dabei, ein noch längst nicht integrierter Thiago Neves auf der Ersatzbank - das verspricht für die kommenden Monate noch reichlich Verbesserung, vor allem im spielerischen Bereich. Lauf- und Passwege sind ebenfalls noch nicht so abgestimmt aufeinander, dass die Experten von einer Einheit sprechen würden, die sich auch blind verstehen könnte. Titeltauglichkeit: 80 Prozent.

Schwächen

1. Die Abwehr ist häufiger instabil Die Hintermannschaft ist längst nicht in der Topverfassung, in der sie über weite Strecken der vergangenen Saison brillierte. Bastian Reinhardt und Joris Mathijsen in der Zentrale wirken zwar gefestigt und geben dem Team den nötigen Halt, aber gerade auf der linken Seite offenbarte Marcell Jansen gegen Werder zum Teil erhebliche Defizite in Drucksituationen. So muss sich der Neuling eine Teilschuld am Ausgleich der Bremer ankreiden lassen, weil er Piotr Trochowski unnötig anspielte, einen Ballverlust einleitete und damit Reinhardts Foul an Diego ermöglichte, das der Brasilianer zum Freistoßtor nutzte. Rechts hinten offenbarte Jerome Boateng einige Mini-Schwankungen, er leistete sich gegen Bremen minutenlange Auszeiten, was sich in "unforced Errors" (Einwürfen, Fehlpässen) niederschlug. Martin Jol fehlt es allerdings an Alternativen, und Jansen muss man zugute halten, dass ihm nach vielen Verletzungen und Fehlzeiten die Spielpraxis fehlt. Titeltauglichkeit: 70 Prozent.

2. Der HSV hat derzeit keinen Torwart-Titan Frank Rost ist, damit keine Zweifel entstehen, einer der besten Torhüter in der Bundesliga und in seinem Team zu Recht unumstritten. Allerdings befand er sich am Derbytag offenbar nicht in Topform. Diegos Freistoßtreffer zählte zwar nicht zu den Toren der Marke "muss man halten", aber es war auch kein Schuss der Marke "unhaltbar". Gut für Martin Jol ist, dass er weiß, dass Rost sich durch Kritik und solche Gegentreffer nicht aus der Ruhe bringen lässt. Selbstzweifel haben diesen Schlussmann noch nie geplagt. Titeltauglichkeit: 80 Prozent.

3. Die spielerische Reife fehlt Bremen machte häufiger deutlich vor, was schnelle Ballstaffetten und kreativen Offensivgeist ausmachen. Offenkundige Automatismen in jeder Spiellage fehlten dem HSV gegen Bremen, was sich in vielen Szenen, sowohl im Aufbauspiel als auch bei Balleroberungen zeigte. Nur durch erhöhte Kampf- und Laufbereitschaft konnte der HSV die spielerische Unterlegenheit wettmachen und Bremen Widerstand leisten. Im Mittelfeld vermochten allenfalls Alex Silva und Paolo Guerrero (in ungewohnter "Zehnerrolle") Topanforderungen genügen. Piotr Trochowski und Guy Demel mangelte es zu oft an Durchsetzungsfähigkeit und Kreativmomenten. Ivica Olic versuchte sich vor seinem Sonntagsschuss zu oft mit der "Brechstangenmethode", Mladen Petric war beim Abwehrduo Naldo/Mertesacker weitgehend abgemeldet. Titeltauglichkeit: 70 Prozent.

4. Die Bank bringt wenig Impulse Gegen Bremen wechselte Martin Jol Collin Benjamin, David Aogo und Jonathan Pitroipa ein. Die Neulinge stellten solide Alternativen dar, brachten dem HSV-Spiel aber keinen positiven Schwung. In seiner aktuellen Konstellation ist der HSV-Kader aufgrund von Verletzungen (de Jong, Atouba, Castelen), Sperren (Jarolim) und Entwicklungsverzögerungen (Neves) qualitativ nicht so stark besetzt, dass er mehrere hochwertige Ausfälle verkraftet. Titeltauglichkeit: 60 Prozent.

5. Piotr Trochowski schwankt leistungstechnisch Gegen Werder tauchte der deutsche Nationalspieler wieder auf der halblinken Seite im Mittelfeld auf, von wo er in der Vergangenheit meist die besten Initialzündungen gab und überzeugte. Doch das DFB-Duell gegen Torsten Frings konnte der quirlige Hamburger nicht für sich entscheiden, er leistete sich in der Vorwärtsbewegung zu häufig längere Auszeiten. Seine Standardsituationen waren auch gegen Bremen zu wechselhaft. Mit Jansen auf der Seite gelang "Troche" zu wenige Überraschungsmomente. Titeltauglichkeit: 70 Prozent.