Lauftalent: Sie begeistert Lehrer und Wissenschaftler - nur den Landestrainer nicht.

Hamburg. Am 23. April hat Jule Aßmann wieder einen ihrer großen Auftritte. Die Elfjährige startet beim "Zehntel", dem Schüler-Vorlauf zum Olympus-Marathon in Hamburg. 2004 dominierte sie nicht nur ihre Altersklasse, sie rannte fast allen davon. Bei der Abendblatt-Wahl zum "Talent des Jahres 2004" belegte sie Platz sechs. Um ihre außergewöhnliche Begabung ist eine Diskussion entbrannt. Das Abendblatt läßt Beteiligte und Beobachter zu Wort kommen.

Holger Aßmann, Jules Vater "Jule ist eine talentierte, auf dem Teppich gebliebene Sportlerin", sagt ihr Vater und Trainer Holger Aßmann (44). Begriffe wie "Wunderkind" oder "Deutschlands größtes Ausdauertalent" mag er nicht hören. "Damit erzeugt man nur ungeheuren Druck auf sie." Lieber solle sie sich ihre Unbekümmertheit bewahren. Und gern ein Rennen verlieren oder sich mit gleichstarken Läuferinnen messen. Diese Möglichkeit sieht er von den Verbänden genommen, weil Jule über bestimmte Distanzen und in höheren Altersklassen bei Meisterschaften nicht starten darf. "Besonders gute Athleten müßten besonders gefördert werden. Aber der Verband pocht auf seine Regeln. Das ist nicht hilfreich."

Jule Aßmann Ihre Laufbegeisterung entdeckte Jule vor drei Jahren im Familienurlaub im Schwarzwald bei einem Kinderlauf. Fortan begleitete sie ihren Vater, einen Hobbyläufer, beim Training im Wald. Inzwischen läuft sie fünfmal pro Woche eine Stunde. "Manchmal querfeldein um die Bäume oder rückwärts. Das macht Spaß", sagt sie. Andere Disziplinen der Leichtathletik langweilen sie meistens. Im Gruppentraining in ihrem Verein LG Glinde macht sie dabei trotzdem mit. Ihre Lieblingsstrecke sind die 5000 Meter. Mit ihrer Bestzeit von 18:17 Minuten war Jule 2004 das zweitschnellste Mädchen in Deutschland bis 14 Jahre.

Frank Bloch, Jules Klassenlehrer Sport, Biologie und Mathematik mag Jule in der Schule am liebsten. Auch in allen anderen Fächern bringt sie sehr gute Leistungen, sagt ihr Deutsch- und Klassenlehrer Frank Bloch. "Sie ist ein Allround-Talent." Nur körperlich hinke Jule ihren Mitschülerinnen etwas hinterher. Daß der Elfjährigen ihre sportlichen Erfolge zu Kopf steigen könnten, befürchtet Bloch kaum: "Nicht nur ihre schulischen Leistungen, auch ihr Sozialverhalten ist großartig." Sie habe in der Klasse keine Neider.

Hinrich Brockmann, Landestrainer "Wir fördern rechtzeitig, aber noch nicht in Jules Alter", sagt Hinrich Brockmann, Landestrainer des Schleswig-Holsteinischen Leichtathletik-Verbands (SHLV). "Anders als im Turnen oder im Eiskunstlauf gibt es bei Langstreckenläufern keine Notwendigkeit, bestimmte Bewegungen sehr früh zu erlernen." Wünschenswert sei eine vielseitige Grundausbildung. "Jule ist im Langstreckenbereich hochbegabt, aber ihre Entwicklung kann nicht ewig so weitergehen. Daher wird sie in den kommenden Jahren auch Geduld brauchen."

Joachim Mester, Wissenschaftler Prof. Joachim Mester leitet das Institut für Trainings- und Bewegungslehre an der Sporthochschule Köln. Er untersucht Jule Aßmann in regelmäßigen Abständen. Ein größeres Ausdauertalent , sagt Mester, habe er bisher nicht kennengelernt. Sie werde von ihrem Vater "dosiert trainiert, vernünftig betreut und zu nichts gezwungen". Mester kann allgemeine Befürchtungen verstehen, "aber jeder Einzelfall ist verschieden". Es spreche nichts dagegen, Jules Ausdauerbegabung speziell zu fördern. Mester: "Auch in anderen Sportarten wie Schwimmen werden in ihrem Alter Ausdauergrundlagen gelegt."

Ingrid Unkelbach, OSP-Leiterin Die Leiterin des Olympiastützpunktes (OSP) Hamburg/Schleswig-Holstein kann eine gewisse Skepsis nicht verhehlen. "Ich habe viele hochtalentierte Kinder in diesem Alter gesehen", sagt sie und erinnert sich an eine zehnjährige Schwimmerin. Heute sei das Mädchen nicht mehr auf der Sportszene präsent. Die Anteile der Ausstiege aus dem Leistungssport vor dem erwarteten Höchstleistungsalter liege im Jugendbereich zwischen 15 und 35 Prozent pro Jahr über alle Sportarten hinweg.

Gaby Bußmann, Sportpsychologin Die Diplom-Psychologin und frühere 400-Meter-Weltklasseläuferin hat sich mit dem "Drop-out" beschäftigt. "Über Jule kann ich nichts konkret sagen, da ich sie nicht kenne", betont Gaby Bußmann. Offenkundig habe das Mädchen ihre Spezialstrecke gefunden. "Sie muß nicht unbedingt früh aufhören", meint Bußmann. Aber: Die Karriere müsse dosiert gesteuert werden. "Es müssen vom Trainer stets neue Impulse und erreichbare Ziele gesetzt werden." Das können Bestzeiten sein, aber auch der Reiz von Fahrten zu unbekannten Wettkampforten. Für Jule gelte wie für jeden anderen Nachwuchsathleten, daß kritische Lebensereignisse zum Ausstieg führen können. Das seien Streß mit Freund oder Freundin, der Übergang von Schule in den Beruf oder eine Leistungsstagnation.