Ablenkung, kein anderer Sport kann das - noch dazu im Wortsinn - so garantieren wie die Formel 1. Regelchaos, Wirtschaftskrise, Radikalkur scheinen...

Melbourne. Ablenkung, kein anderer Sport kann das - noch dazu im Wortsinn - so garantieren wie die Formel 1. Regelchaos, Wirtschaftskrise, Radikalkur scheinen dem Prinzip der rasenden Unterhaltung nichts anhaben zu können. Die Etats sind zwar gesunken, die Ansprüche aber gestiegen. Die Saison 2008 war bis zur letzten Kurve ein einziges Drama, und daran wird Zwei-null-null-neun gemessen. Keine Bange vor dem Saisonstart am Sonntag in Australien (8 Uhr/RTL und Premiere). Das Abendblatt listet auf, warum Motorsportfans sich auf eine faszinierende Saison freuen dürfen.

Immer neue Regeln, immer neue Techniken, das ist nicht so furchtbar neu in diesem Sport. Aber der kräftigste technologische Einschnitt der Historie macht diesmal richtig Sinn: Nicht ums Einbremsen geht es dabei, sondern um mehr Überholmanöver. Die Hässlichkeit der Boliden, die manchmal wie Gokarts auf Droge wirken, sei als Mittel zum Zweck verziehen. Wie viel schöner wäre es doch schon, wenn die ewigen Prozessionen der Autos wenigstens ab und an unterbrochen würden.

Wenn (fast) alles neu ist an den Rennwagen, dann gibt es reichlich Risiken und Nebenwirkungen. Falsche Konzepte, technische Unzulänglichkeiten, menschliche Unzuverlässigkeit. Das könnte im Schleudergang alles durchwirbeln. Prinzipiell ist es für die Fahrer viel schwieriger geworden, die Boliden zu beherrschen. Kein Wunder, dass es selbst Rekordweltmeister Michael Schumacher aus Neugier zum Ortstermin Melbourne zieht.

Die Fahrt ins Ungewisse sorgt im Idealfall für eine Verschiebung der Machtverhältnisse. Bei den letzten Testfahrten waren die Ansätze schon zu besichtigen: Das neue Team von Ross Brawn mit Mercedes-Leihmotor Bester, Weltmeister Lewis Hamilton mit Mercedes-Originalteilen Letzter. Das wird sich vermutlich drehen und wenden im Laufe des Jahres, aber dieser anfängliche Aufstand gibt den Außenseitern Hoffnung. Es gibt mehr Favoriten denn je - und bislang keinen Überflieger.

Es sind noch ein paar Rechnungen offen vom letzten Jahr, was in entsprechende Comeback-Versuche münden wird: Felipe Massa möchte länger als ein paar Sekunden Weltmeister sein, Nick Heidfeld ist nach einem technisch verunglückten Rennjahr in eigener Sache beweispflichtig, Kimi Räikkönen muss runter von seinem Planeten in die reale Rennwelt. Vor der vielleicht größten Bewährungsprobe steht Lewis Hamilton - kann er ähnlich gut abwehren wie angreifen?

**Die Möglichkeit, auf Knopfdruck zu überholen, elektrisiert die Branche. Trotzdem werden sechs von zehn Teams in Melbourne auf den Zusatzschub von KERS zunächst verzichten. Denn die Batterien sind schwer, bringen die Fahrzeugbalance durcheinander. Die ist unter den neuen Umständen schon grundsätzlich schwer kalkulierbar. Der Verlust vieler aerodynamischer Hilfsmittel macht die Autos drei Sekunden pro Runden langsamer, die profillosen Slick-Reifen gewinnen zwei wieder zurück.

Deutschland geht wieder mit einem Rennquintett an den Start, falls das im Zuge der Vorschusslorbeer-Konzentration auf "Basti Fantasti" Vettel untergegangen sein sollte. Auch Timo Glock (Toyota), Nick Heidfeld (BMW) und Nico Rosberg (Williams) dürfen zum erweiterten Favoritenkreis gerechnet werden, Adrian Sutil (Force-India-Mercedes) würde einfach nur mal vom Tabellenende wegkommen.

Für alle Renn-Teutonen außer Vettel geht es um Vertragsverlängerungen. Aber Vettel geht es wie dem Renault-Piloten Fernando Alonso, der mit dem Pokern schon beginnen kann, bevor es losgeht. Der Spanier gilt als Favorit für eine Stelle bei Ferrari, die aber noch gar nicht ausgeschrieben ist - und von Bernie Ecclestone für die Zukunft gern auch Vettel zugedacht würde.

Volle Fahrt mit halber Finanzkraft - der Nachteil, als erste Welt-Sportart richtig von der Krise erwischt worden zu sein, bringt auch den Vorteil, als erste wieder aus diesem Szenario herausbeschleunigen zu können. Entscheidend dafür wird bei allen - nötigen - Einschränkungen sein, die DNA des Sports nicht zu beschädigen. In einem zeigt sich der Charakter der Formel 1 unverändert: Schon wieder versuchen sich Vermarkter, Funktionäre und Teamchefs gegenseitig auszubremsen. Der Weihnachtsfrieden ist hinfällig. Politisch wird es eine ebenso stürmische Saison wie sportlich.

Dann gibt es da noch ein paar Große-Preis-Fragen: Wird es auch in Zukunft noch ein Rennen auf deutschem Boden geben? Wie viele Hersteller werden wirklich aus-, wie viele Privatrennställe einsteigen? Bestimmt künftig die Scheidung im Hause Ecclestone die Schlagzeilen? Beginnt das neue Jahr mit einer Protestaktion gegen die Rennwagen von Ross Brawn? Stellt sich Max Mosley im Herbst doch noch mal als Fia-Präsident zur Wahl? Gibt es eine ähnliche Neuentdeckung wie Sebastian Vettel ...?

Stopp, stopp! Es soll vorerst bei neun von 2009 Gründen bleiben. Ob es eine bessere oder schlechtere Formel 1 ist, wird sich auf der Strecke klären. Eine spannendere wird es allemal.