AUFARBEITUNG Die ehemalige DDR-Kugelstoßerin Birgit Boese über ihre kurze Sportkarriere und das lange Leiden der Opfer. ABENDBLATT: Frau Boese, wann sind Sie das erste Mal mit Doping konfrontiert worden? BIRGIT BOESE: Die Tablettengabe fing sofort mit meiner Aufnahme in die Sportschule an. ABENDBLATT: Wie alt waren Sie? BOESE: Ich war gerade 13 geworden, vielleicht auch noch zwölf. ABENDBLATT: Wie muss man sich die Verabreichung vorstellen? BOESE: Bei mir war es so, dass die Trainerin sagte, ich solle nach dem Training noch einmal allein in ihr Büro kommen. Auf ihrem Schreibtisch lagen lauter bunte Tabletten in sämtlichen Regenbogenfarben, und sie sagte einfach nur: Hier, nimm das. ABENDBLATT: Wollten Sie nicht wissen, worum es sich handelt? BOESE: Natürlich, ich fragte kindlich naiv: Wat issn dett? ABENDBLATT: Und wie hat die Trainerin reagiert? BOESE: Sie sagte: Frag nich, mach hin. Da habe ich die Tabletten geschluckt. Denn es war bekannt: Wer zu viel fragte, musste laufen. In der Regel zehn Runden, also vier Kilometer. Nun waren wir aber Werfer, und kein Werfer läuft gern. Sonst wäre er ja Läufer geworden. ABENDBLATT: Welchen Sinn hatte die Vergabe von Dopingmitteln an Kinder in dem Alter, in dem sie damals waren? BOESE: Anabole Steroide bewirkten vor allem einen schnelleren Muskelzuwachs. Damit die enorme Trainingsbelastung, die zu stemmenden Gewichte von dem kindlichen Körper zu bewältigen sind. Und natürlich, um die Ermüdungs- und Schmerzgrenze hinauszuschieben. ABENDBLATT: Wann wurde Ihnen zum ersten Mal bewusst, dass die bunten Pillen doch nicht so harmlos waren, wie sie aussahen? BOESE: Als ich mit 25 Jahren ein Kind bekommen wollte. ABENDBLATT: Was, so lange haben Sie brav geschluckt? BOESE: Nein, meine leistungssportliche Karriere war da schon lange beendet. ABENDBLATT: Wie kam es dazu? BOESE: Im Winter 1976 hatten wir ein Trainingslager in Oberwiesenthal. Wir sollten Mut beweisen und rodeln. Uns haben vor Angst die Knie geschlottert, als wir am Start standen und die steile Bahn hinunterblickten. Doch es nutzte nichts. Nicht zu fahren, bedeutete Trainingsverweigerung und wurde bestraft. ABENDBLATT: Also sind Sie runter gefahren. BOESE: Ja, und sehr bald umgekippt. Weil die Schlitten auf Anweisung zusammengebunden waren, ist mir der nächste Schlitten mit dem Trainer über den Fuß gefahren. Ich hatte irre Schmerzen. Doch der Trainer sagte nur, ich solle mich nicht so anstellen, das sei nur eine Verstauchung. ABENDBLATT: War es aber nicht. BOESE: Nein. Nach dem Rodeltraining mussten wir noch zwei Stunden die Stadt besichtigen. Doch da war das Fußgelenk längst lila-blau angelaufen und zum Platzen dick. Ein Arzt stellte schließlich einen Bänderriss und Absplitterungen am Knöchel fest. Ein Jahr quälte ich mich noch mit Spezialschuhen durchs Training. Doch weil die frische Verletzung viel zu spät behandelt wurde, heilte das Gelenk miserabel. Nach dem zweiten Antrag wurde ich dann Ende 1977 vom "Leistungssportauftrag" entbunden. ABENDBLATT: Doch das bedeutete nicht das Ende der Leiden. BOESE: Die langen Schatten meiner Leistungssportkarriere haben mich wie gesagt eingeholt, als ich Mutter werden wollte. Der Gynäkologe, der uns mit einer Hormontherapie zu einem Kind verhelfen wollte, stellte leider zu spät eine bereits bestehende Hormonschädigung sowie eine massive Fettstoffwechselstörung fest. Und dass meine Unterleibsorgane der biologischen Entwicklung einer Elfjährigen entsprachen. Mein Körper bildete zwar lebensfähige Eizellen, die nach 24 Stunden aber abgestorben waren. ABENDBLATT: Hatte er Sie nicht nach Ihrer leistungssportlichen Vergangenheit befragt? BOESE: Doch, aber ich bin zu diesem Zeitpunkt immer noch davon ausgegangen, dass ich keine Dopingmittel erhalten hatte. Ich war doch noch ein Kind, als ich zur Sportschule kam. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mir jemand ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung solche Mittel verabreicht haben soll. ABENDBLATT: Ist es nicht unglaubwürdig, wenn DDR-Sportler, die länger Kader-Athleten waren als Sie, behaupten, sie hätten bei den berühmten blauen Pillen niemals Verdacht geschöpft? BOESE: Als Kind warst du relativ arglos. Sie haben dir etwas von Vitaminen, Mineralien und Eiweißdrinks erzählt, und du hast es geglaubt, weil es solche oder ähnliche Tabletten ja auch zu Hause bei den Eltern gab. Die erfahreneren Athleten haben ihre Ration zumeist in Briefchen mit einem genauen Einnahmeplan bekommen. Sie wussten aber auch nicht genau, was es ist und haben einfach darauf vertraut, dass die "unterstützenden Mittel" entsprechend getestet und sie selbst keinerlei gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind. ABENDBLATT: Ein verhängnisvoller Trugschluss. BOESE: Ja, weil sich das Ausmaß der Dopingverseuchung und der Nebenwirkungen niemand vorstellen konnte. Ich war sogar ewig davon überzeugt, dass auch meine Trainer von dem Doping nichts wissen konnten, das war für mich keine denkbare Option. Ich war naiv ohne Ende. In Wahrheit gab es keine Rücksichtnahme. Weder das Alter noch die Sportart spielten eine Rolle. Man hat nicht den Menschen gesehen, sondern nur die betreffende Körpermasse und was sich sportlich aus ihr machen lässt. Mit welchen Mitteln und auf welchem Weg der Erfolg erzielt wurde, war den Verantwortlichen scheißegal. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen gegangen und haben uns gnadenlos verheizt. ABENDBLATT: Hat Doping Ihr Leben nachhaltig verändert? BOESE: Doping hat mein Leben fast zerstört. Ich habe heute permanenten Bluthochdruck, Asthma, Allergien, Herzrhythmusstörungen, Diabetis, eine Fettleber, eine kaputte Wirbelsäule. Ich müsste nach einem Bandscheibenvorfall operiert werden, doch das lassen meine Herz-Kreislauf-Werte nicht zu. Ich nehme seit Jahren hochdosierte Medikamente gegen die Schmerzen, musste deshalb mein Modegeschäft aufgeben. Wir können nicht ins Kino, ins Theater oder ins Konzert gehen, weil ich nicht länger als zwanzig Minuten still sitzen kann. Und ich habe einen Sohn, der unter schwerem Asthma und Neurodermitis leidet. Viel mehr ist kaum zu ertragen. Ich bin ein menschliches Wrack. ABENDBLATT: Haben Sie mal erwogen, sich umzubringen? BOESE: Nein, denn ich sage mir immer: Es gibt Leute, die sind noch viel schlimmer dran als du. Außerdem habe ich das Gefühl, gebraucht zu werden. Mit meiner Arbeit in der Dopingopferberatungsstelle kann ich Leidensgefährten helfen, an ihrem Schicksal nicht zu zerbrechen. Weil ich weiß, wie sie sich fühlen und weiß, was sie brauchen. ABENDBLATT: Wie viele ehemalige DDR-Athleten leiden unter den Spätfolgen des Dopings? BOESE: Betroffen sollen rund 10 000 Sportler sein, darunter etwa 1000 mit schweren Folgeschäden. Ich persönlich habe mit 400 von ihnen Beratungsgespräche geführt. Viele von ihnen waren entweder schon berunfsunfähig oder standen kurz davor. ABENDBLATT: Mit welchen Leiden wurden Sie konfrontiert? BOESE: Mehrere Krebsfälle, Fehlgeburten, Todgeburten, Missbildungen bei Kindern, Sterilität bei Männern und Frauen, schwere Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, schwere Schädigung innerer Organe, Skelett-/Wirbelsäulenschäden. Es gibt etliche Fälle, da sind die Knochen zwanzig Jahre älter als der Athlet. Der Stützapparat vieler 40-Jähriger weist den Abnutzungsgrad von 70-Jährigen auf. Viele DDR-Sportler sind medizinisch gesehen tickende Zeitbomben. ABENDBLATT: Am 31. März läuft die Antragsfrist für Ansprüche aus dem Entschädigungsfonds für Dopingopfer aus. Wie viele Anträge wurden bislang gestellt? BOESE: So weit ich weiß knapp 100. Doch weil die Zahl gerade in den letzten Tagen spürbar zugenommen hat, wird nun geprüft, ob die Antragsfrist nicht um ein bis zwei Monate verlängert werden sollte. ABENDBLATT: Welche Entschädigungssumme steht zur Verfügung? BOESE: Zwei Millionen Euro plus 25 000 Euro von Schering. Aber nur, weil Jenapharm, jener DDR-Betrieb, der das Anabolikum Oral-Turinabol herstellte, seit 2001 ein Tochterunternehmen des Pharmariesen ist. Es hat lange gedauert, bis Schering sich zu dieser Geste durchgerungen hat. ABENDBLATT: Warum gibt es bis heute so wenige Antragsteller? BOESE: Viele schweigen aus Scham. Es fällt ihnen schwer, sich einzugestehen, dass sie Versuchskaninchen waren. Andere fürchten berufliche Probleme, wollen ihre Karriere nicht aufs Spiel setzen. ABENDBLATT: Sie und andere Betroffene aber sind in die Offensive gegangen. BOESE: Schwiegen wir, hört dieser Wahnsinn vielleicht nie auf. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses Thema bagatellisiert wird. Sonst ist der Weg bis zum nächsten System menschenverachtender Manipulation einfach zu kurz. ABENDBLATT: Sind Sie mit der Unterstützung der Politik zufrieden? BOESE: Es war ein langes Tauziehen, um dem Thema die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen. Am vergangenen Dienstag statteten Ute Vogt (SPD), Parlamentarische Staatssekretärin im Innenministerium, und Frau Freitag vom Sportausschuss der SPD-Bundestagsfraktion der Beratungsstelle einen Besuch ab. Das war geradezu ein historischer Akt, weil darin ein politisches Anerkenntnis des Dopingproblems zum Ausdruck kommt. Kürzlich hat sich der Deutsche Sportbund auch endlich zu einer Teilfinanzierung meiner Tätigkeit bereit gefunden. Es ist also durchaus Bewegung in die Sache gekommen. ABENDBLATT: Und wie steht es um die juristische Aufarbeitung? BOESE: Viele Prozesse sind wegen Verjährung gar nicht geführt worden. Kam es doch zu Anklagen, ging es nicht selten zu wie auf dem Jahrmarkt. Der Prozess gegen meine ehemaligen Trainer Helga und Peter Börner dauerte ganze acht Minuten und glich einer Narrenposse. Selbst die Richterin war der Ansicht, dass angesichts der Schwere der Tat vor der nächsthöheren Instanz hätte verhandelt werden müssen. So kamen für die Angeklagten sieben und zehn Monate auf Bewährung heraus. Ein Schlag ins Gesicht der Opfer. Viele ehemalige DDR-Trainer und -Sportärzte sind noch immer in Amt und Würden. Zehn von ihnen waren sogar bei den Sommerspielen 2000 in Sydney dabei. Während man den Tätern Rehabilitation zugesteht, sprach man den Opfern lange das Recht auf ein normales Leben ab. ABENDBLATT: Finden Sie es richtig, die Erfolge des DDR-Sports auf Doping zurückzuführen? BOESE: Das ist Quatsch. Die Sportler haben sehr hart und effizient trainiert. Die materiellen Bedingungen waren vielfach vom Feinsten, das Sichtungssystem mit den angeschlossenen Sportschulen beispielhaft. Auch auf dem Gebiet der Trainingsmethodik wurde enorm viel geleistet. Doch die Dopingtragödie ist das mit Abstand finsterste Kapitel der DDR-Sportgeschichte. Interview: LUTZ WAGNER "Heute ist klar: Nur in der Rhythmischen Sportgymnastik und im Segeln wurde in der DDR nicht systematisch gedopt."