Gießen. Der Pottwal verendete vor Helgoland. Uni Gießen nimmt sich des Kadavers an – Neuland für Binnenland-Wissenschaftler.

Einst schwamm er durchs Meer, nun schwebt der "Wal von Gießen" über den Köpfen junger Forscher. Vor drei Jahren gehörte der Meeressäuger zu einer Gruppe glückloser Pottwal-Jungbullen, die sich in der Nordsee verirrt hatten und verendet waren. Jetzt hängt sein riesiges Skelett präpariert und mit allerlei Schrauben und Metallstangen fixiert in einem Hörsaal in Gießen - fernab der See mitten in Hessen.

Nicht nur diese neue Heimat des 15-Meter-Pottwals ist ungewöhnlich, sondern auch das Engagement der Wissenschaftler und Präparatoren, die am Mittwochabend das Skelett erstmals vorstellen wollten. Denn noch nie haben sie hier an der Uni Gießen ein so großes Tier präpariert. Durchaus eine Pionierleistung für eine Hochschule im Binnenland, doch Professor Volker Wissemann stellt klar: "Grundsätzlich ist es nicht sonderlich entscheidend, ob bei der Präparation eine Katze oder ein Wal vor Ihnen liegt." Die Hauptprobleme seien aber tatsächlich Größe und Gewicht sowie der Ölgehalt der Knochen gewesen, sagt Wissemann, der die Idee hatte, den Wal für die Nachwuchsarbeit an die Uni Gießen zu bringen. "Es war vor allem in logistischer Hinsicht eine Herausforderung."

Wal trieb tot vor Helgoland

Und das von Anfang an: Der Wal trieb Wissemann zufolge im Januar 2016 tot vor der Insel Helgoland, wurde dort an einem Schiff vertäut, nach Nordstrand gezogen, angelandet und zerlegt. In einem Container kam der Kadaver per Lastwagen zur Gießener Veterinärmedizin. Ein Kran bewegte unter den Blicken zahlreicher Schaulustiger die massigen Einzelteile des Meeressäugers. Präparatoren griffen beherzt in die süßlich stinkenden Wal-Überreste aus Knochen, Knorpeln, Fett- und Fleischschichten. Sie sichteten kleinere Skelett-Teile, um sie später an die richtige Stelle setzen zu können.

Walpuzzle aus 200 Teilen

Denn das war und ist der Anspruch der Gießener Wissenschaftler: alle etwa 200 Teile des Pottwal-Puzzles korrekt montieren. Das sei "nicht trivial", hatte Veterinär-Anatom Prof. Martin Bergmann nach der Ankunft des Wals erklärt. In manchen Museen stünden Skelette mit Fehlern im Detail.

"In den meisten Fällen war klar, wo die Knochen hingehören", sagt Wissemann. Die Flossen jedoch mussten in den Computertomographen: "Dadurch war die genaue Position, Anzahl und Abstände der einzelnen "Fingerknochen" in der Flosse sichtbar, so dass am Ende auch die präparierte Flossen die exakte Größe wie im Original hatten." Die Herausforderung sei nun geschafft, alle Knochen des Wals seien korrekt montiert und alle Abstände exakt so wie beim lebenden Tier. Zudem wurden die Knorpel, die beim langwierigen Präparationsprozess zersetzt werden, rekonstruiert.

Kadaver rottete lange vor sich hin

Es war ein langer Weg bis dahin: Nach ihrer Ankunft in Gießen rotteten die Einzelteile des Wals zunächst wochenlang in einem Wasserbad vor sich hin. Mazeration heißt der Prozess, bei dem sich Fleisch- und Gewebereste von den Knochen lösen. Dann ging es hinein in eine extra angefertigte Riesenwanne und in ein Enzymbad, um den Prozess zu beschleunigen. Die Knochen wurden entfettet, gebleicht und schließlich Stück für Stück zusammengesetzt. Hilfe holten sich die Gießener unter anderem von Kollegen aus Göttingen und Stralsund. Am Ende prüfte der TÜV das auf einer eigens angefertigten Metallkonstruktion montierte Skelett auf Sicherheit.

Nun also hängt der "Wal von Gießen" in einem Hörsaal der Hermann-Hoffmann-Akademie für junge Forscher, die sich unter anderem an Schüler richtet. Seine Aufgabe nach Angaben von Akademie-Leiter Wissemann: als Anschauungsexemplar dienen in der Bildungsarbeit rund um die Themen Wale, Ökologie, Gesellschaft und Umweltschutz.