Eingebettet in die Bilderbuchlandschaft der Prignitz liegt Havelberg, wo es neben erholsamer Stille und historischen Mauern auch lustige Eier gibt

Man könnte schnell vorbeifahren auf der A 24, die Hamburg mit Berlin verbindet. Doch auf halbem Wege liegt die Ausfahrt Meyenburg, und wer eine wundervolle Landschaft im Nordwesten Brandenburgs kennenlernen möchte, sollte hier abfahren. Gen Süden geht es in die Prignitz hinein, vorbei an Pritzwalk bis nach Havelberg, der vielleicht reizvollsten Stadt dieser alten Kulturlandschaft.

Mächtig und wehrhaft erhebt sich der Dom über die Stadt. Schon von Weitem ist das gewaltige Bauwerk zu sehen, vor allem der wuchtigeQuerriegel, der die riesige Backsteinkirche nach Westen hin abschließt. Mit seinen nur von wenigen schmalen Lichtschlitzen und Fenstern durchbrochenen Mauern erscheint dieser Westbau fast wie eine Burg. Wir hören keinen Autolärm, nur das heisere Krähen eines Hahns. Da fällt es nicht schwer, sich in längst vergangene Zeit zurückzuträumen, in eine Ära, in der Havelberg ein mächtiger mittelalterlicher Bischofssitz war. Es war Kaiser Otto I., der 946 oder 965 - hier sind sich die Experten nicht einig - das Bistum Havelberg gründete, um die heidnischen Slawen zu missionieren. Das geschah kaum mit Nächstenliebe, sondern vor allem mit Feuer, Schwert und Hinterlist. Kein Wunder also, dass sich die Wenden schon 983 gegen die neuen Herren auflehnten und diese blutig vertrieben.

Erst 1147 gelang es einem Heer sächsischer Fürsten, den Widerstand zu brechen und die slawischen Gebiete endgültig zu christianisieren. Die Adeligen, die damals unter dem Zeichen des Kreuzes kämpften, erhielten Ländereien in jener Gegend, die westlich durch die Elbe, östlich durch die Kyritzer Seen und die Ausläufer der Müritz begrenzt wird und die den Namen Prignitz trägt.

Zu den Teilnehmern des Kreuzzuges gehörte auch Bischof Anselm. Er ließ den romanischen Dom erbauen, der sich völlig unerwartet präsentiert: Lichtdurchflutet und hoch aufstrebend zeigt sich der nach einem Brand Ende des 13. Jahrhunderts gotisch erneuerte Bau der dreischiffigen Pfeilerbasilika.

Das Prunkstück ist der vermutlich um 1400 entstandene kunstvoll aus Sandstein gearbeitete Lettner. Diese gotische Steinmetzarbeit ist mit zahlreichen Figuren und Reliefs geschmückt, die den Leidensweg Christi darstellen. Im Südflügel des Klosters befindet sich das Prignitz-Museum, das auch über ein historisches Kuriosum informiert: In Havelberg, also mitten im Binnenland, ließ Kurfürst Friedrich Wilhelm I. Ende des 17. Jahrhunderts eine Flotte seetüchtiger Schiffe für Brandenburg bauen. Die Schiffe, die holländische Experten konstruiert hatten, waren zwar seetüchtig, aber unverhältnismäßig kostspielig, mussten sie doch erst einmal auf Flößen über Elbe und Havel mühsam nach Hamburg transportiert werden.

Gleich nebenan, von der Terrasse des italienischen Restaurants Bella Vista, bietet sich ein reizvoller Blick auf die Dachlandschaft der Altstadt, die auf einer kleinen Insel liegt. Wir sehen den Stadtgraben und die Havel, blicken über die Flussniederung hinüber zur Stadtpfarrkirche St. Laurentius und beobachten, wie ein kleiner Ausflugsdampfer gemächlich die Havel entlangfährt. Auf die Frage, was man sich unten in der Stadt ansehen könne, zuckt der freundliche italienische Kellner bedauernd die Schultern. "Scusi, ich war noch nie da unten, hatte noch keine Zeit", sagt er und serviert leckere Bruschetta.

Da hat er einiges verpasst, das wird uns wenig später klar, als wir den Prälatenweg hinabsteigen und über die Dombrücke in die malerische Altstadt gelangen. Schmucke Häuser vorwiegend aus dem 18. und 19. Jahrhundert bestimmen das Bild. An Gebäuden wie dem Rathaus von 1854 oder dem Beguinenhaus informieren Tafeln über die Geschichte, sodass man auf eigene Faust einen historischen Stadtspaziergang unternehmen kann. Direkt am Markt gibt es einen kuriosen Laden: "Alles aus dem Ei" heißt das Geschäft, in dem man jene winzigen Spielzeuge kaufen kann, die in Überraschungseiern verborgen sind. Seit 1999 betreibt Gudrun Krüger dieses Geschäft in Havelberg, das Ü-Ei-Fans aus der ganzen Region anlockt. Wie es sich in Havelberg lebt? "Es ist sehr schön hier, wir haben den Dom und die Altstadt, aber manchmal ist es doch etwas einsam, vor allem im Winter", sagt Krüger, und fügt hinzu: "Aber vielleicht ist es gerade die Stille, die vielen Besuchern bei uns so gut gefällt."

Tatsächlich scheint über der ganzen Landschaft eine eigentümliche Ruhe zu liegen. Folgt die Zeit hier einem anderen Takt? Nichts ist schroff, die Felder und Wiesen der Prignitz sind sanft und wellig, und über allem wölbt sich ein schier unendlich weiter Himmel. Wir fahren durch schnurgerade Eichen-Alleen, vorbei an löwenzahngelben Wiesen und mittelalterlichen Kirchen, auf deren trutzigen Türmen Störche ihre Nester gebaut haben.

Es ist eine Bilderbuchlandschaft, die immer wieder neue Ausblicke eröffnet, und oft verleiht die sanfte Harmonie von Wald, Wiese und Fluss oder Teich dieser Gegend ihren eigenen Reiz. Man spürt, dass die Prignitz dünn besiedelt ist. Wer hier lebt, ist es gewohnt, Platz zu haben. Auf dem holprigen Pflaster von Wittstock, Pritzwalk oder Perleberg meint man oft, den Nachhall einer langen Geschichte zu hören. Die Gegenwart erschließt sich dem Reisenden sehr viel schwerer. Von Zeit zu Zeit tauchen ehemalige Fabriken auf. Weit hin sichtbar ist der Uhrenturm der ehemaligen Nähmaschinenwerke Wittenberge. Von 1903 bis 1992 wurden hier Nähmaschinen hergestellt, zunächst der Firma Singer, später unter dem DDR-Namen Veritas. Geblieben ist nur der knapp 50 Meter hohe Uhrenturm aus dem Jahr 1929, dessen vier Zifferblätter nachts erleuchtet werden.

Wittenberge wurde 1846 an die Berlin-Hamburger Eisenbahn angebunden, seitdem war der Aufschwung nicht zu bremsen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg leisteten sich die Bürger ein prächtiges Rathaus. Der Boom ist längst vorbei, und am Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft hat Wittenberge noch immer schwer zu tragen. Nur noch 19 000 Einwohner, und damit etwa ein Drittel weniger als vor der Wende, leben in der Stadt an der Elbe. Die alte Ölmühle musste längst dichtmachen, aber nun dient das Industriedenkmal an der Elbe als Kulisse für das große Open-Air-Event der Elbland-Festspiele, die jedes Jahr im Juli Tausende Operetten- und Musical-Fans nach Wittenberge locken.

Nur wenige Schritte vom quirligen Zentrum entfernt zeigt sich die Stadt von ihrer stillen und malerischen Seite. Hübsch herausgeputzte Häuser säumen den Elbdeich, der zu kilometerlangen Spaziergängen oder Radtouren einlädt. Hier steht der Backsteinbau des 1882 errichteten historischen Kranhauses. Wo sich früher die große Ladebrücke mit Laufkran befand, erstreckt sich heute die Terrasse des wahrscheinlich schönsten Restaurants von Wittenberge. Wer hier sitzt, hat einen weiten Blick über die Elbe, betrachtet die Flussschiffe, die stromab den Hamburger Hafen ansteuern. Freundlich und mit großer Geste, als stünde er auf der Bühne, begrüßt Besitzer und Küchenchef Knut Diete seine Gäste. Er plaudert über regionale Kochtraditionen, bevor er in der Küche verschwindet und Erstaunliches kreiert. Berühmt sind seine frischen Erdbeeren in Senfsauce mit einer Kugel Vanilleeis. Wem es schmeckt, und das dürften die allermeisten seiner Gäste sein, dem drückt er dieses Rezept, mit dem er schon Staatsoberhäupter verblüfft und entzückt hat, gleich in die Hand. Versehen mit einem Autogramm, denn Diete ist zwar einerseits so bodenständig wie die Landschaft, in der er lebt, er ist aber eben auch ein prominenter Koch: Jeden Donnerstag stellt er seine raffinierten Rezepte im Radiosender Antenne Brandenburg vor. Und wem das Nachkochen nicht gelingt, der kann sich von Diete im Kranhaus bewirten und beraten lassen. Den grandiosen Elbblick gibt es gratis dazu.

Lesen Sie morgen: Wer nach Friedrichstadt kommt, könnte denken, er sei in den Niederlanden. Am besten erlebt er das schmucke Holländerstädtchen deshalb bei einer Grachtenfahrt.