Ironie der Geschichte: Für die Natur war der unbewohnte Todesstreifen ein wahrer Segen. Hier gibt es seltene Tiere und einsame Badestellen. Die Stille lädt zur inneren Einkehr ein.

Ganz falsch ist es nicht, dass man sich hier immer noch ein bisschen wie am Ende der Welt vorkommt. Hier in Rögnitz, einem 80-Seelen-Ort ein paar Kilometer östlich vom Schaalsee, wo es nur eine Hauptstraße gibt, an deren Ende, hinter der Dorfwiese samt wunderschöner Lindenallee, das alte Gutshaus liegt. "Wenn man das erste Mal hierher kommt, muss man erst mal lernen, damit umzugehen, dass nichts passiert", sagt Ulrike Gewecke.

Dabei ist hier jahrzehntelang nichts passiert. Aber dass sich Pflanzen und Tiere in knapp 30 Jahren so prächtig entwickeln konnten, dass die Region um den Schaalsee im Januar 2000 von der UNESCO als Biosphärenreservat anerkannt worden ist, lag nicht etwa an der Überzeugungsarbeit engagierter Umweltschützer, sondern an dem verbrecherischen Plan von gewissenlosen Menschen, dem eigenen Volk buchstäblich die Grenzen aufzuzeigen. Mauer, Schießanlagen, Tretminen und Wachtürme bedeuteten seit 1961 für die Bewohner der damaligen DDR wirklich das Ende der Welt. Für die Natur dagegen war der unbewohnte Todesstreifen ein Segen. Und ist es heute, welch Ironie der Geschichte, fast 20 Jahre nach dem Mauerfall auch wieder für die Menschen.

Ulrike Gewecke hat dieses grüne Paradies vor elf Jahren entdeckt. Freunde erzählten ihr von dem urigen Dorf und einem verfallenen Haus. "Die alte Dame aus dem 19. Jahrhundert wollte renoviert werden", sagt die Hamburgerin heute im Rückblick. Sie verwandelte das marode Anwesen mit der Zeit in ein fröhliches Landhaus, dessen vordere Wohnung mit zwei Zimmern sie an Feriengäste vermietet. Hier erzählt jedes Möbelstück eine eigene Geschichte. Das große Waschbecken stammt aus einem Hamburger Friseursalon und das Schlafzimmer, war vor sehr langer Zeit das erste Klassenzimmer der Schule in Rögnitz.

Wenn man Ulrike Gewecke fragt, was diesen Landstrich mit den vielen blauen Seen und den dichten, grünen Wäldern so einzigartig macht, muss sie nicht lange überlegen. "Die Brüchigkeit der Geschichte, die Stille, die Kraniche, die wilde Natur, die vielen netten Menschen und die Einsamkeit", sagt die 65-Jährige. Wer zu ihr kommt, der weiß, dass es hier keinen Fernseher, keinen Supermarkt und keine Kneipe gibt.

Dafür können die Kinder den ganzen Tag im Freien toben, das Baumhaus im Garten erobern oder mit ihren Eltern zu einem der nahen Seen radeln. Idyllische Badestellen gibt es genug, eine zum Beispiel am Neuenkirchener See. "Das war einmal ein Geheimtipp, aber jetzt ist dort im Sommer doch schon immer eine Menge los", sagt Heidi Lemm. Andererseits könne man hier zwei Stunden am Boissower See spazieren gehen, "und trifft nicht einen Menschen". Die 54-Jährige ist im 14 Kilometer entfernten Gadebusch aufgewachsen, kam vor zehn Jahren mit ihrem Mann nach Rögnitz und arbeitet heute bei Ute Rohrbeck. Die wiederum stammt aus Hamburg und hat vor 15 Jahren durch eine Zeitungsanzeige zu dem Gutshaus am Ende der Dorfstraße gefunden, dessen 16 Zimmer sie zuallererst von Grund auf instand setzte. Im Keller stellt sie seit einigen Jahren eigenen Ziegenkäse her, ihr Kundenkreis reicht bis nach Hamburg.

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Es ist auch diese Art von Entwicklung, die gemeint ist, wenn es seitens der UNESCO über die weltweit 425 Biosphärenreservate in etwas sperriger Sprache heißt: Sie wollen naturverträglichen Tourismus und Umweltbewusstsein fördern, verstehen Umwelt- und Naturschutz als Entwicklungschance für die Region und stehen vor allem für den Erhalt unverwechselbarer Kulturlandschaften sowie die Schaffung von Einkommen und Arbeitsplätzen.

Das heißt aber für die Ausflügler auch: Rad fahren auf zahlreichen Wanderwegen und wandern auf 150 Kilometer langen ausgeschilderten Routen ja, aber Boot fahren nur begrenzt und mit ortsfremden Booten gar nicht. Zelten in freier Landschaft verboten. Auch einen Zeltplatz sucht man im 309 Quadratkilometer großen Biosphärenreservat Schaalsee vergeblich, es gibt aber welche am Westufer des Schaalsees im Naturpark Lauenburgische Seen. Pilzesammeln ist in den 18 ausgewiesenen Naturschutzgebieten nicht erlaubt. Es geht in dieser Region, das wird dem Besucher schnell deutlich, vor allem um Rücksicht. Ulrike Gewecke spricht von dem "Respekt vor Tieren und Pflanzen". Jeder Besucher müsse sich als "Gast der Natur" fühlen. "Wer die Stille nicht aushält, für den ist das hier nicht das Richtige", sagt Ulrike Gewecke, die es oft erlebt hat, dass Gäste zwei bis drei Tage brauchten, um sich daran zu gewöhnen, dass hier alles "einen Tick langsamer" geht, und "dass die Aktivität aus einem selbst kommen muss und nicht von außen durch irgendwelche Animateure an einen herangetragen wird". Aber schließlich sagen sie: "Mein Gott, ist das schön hier."

Natürlich muss man nicht vollkommen Ulrike Gewecke folgen und "wenig erwarten, sondern sich die Dinge entwickeln lassen". Lassen sich doch die Inselstadt Ratzeburg und die Eulenspiegelstadt Mölln entdecken sowie Museen, Töpfermärkte und Feuerfeste besuchen. Aber wenn man das erste Mal auf Entdeckungsreise am Schaalsee war, ist man sich hinterher ganz und gar sicher, dass der Mensch im Grunde mit viel weniger auskommt, als er denkt. Weil die Natur nämlich viel mehr zu bieten hat, als man bisher wusste.

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