Spanisch lernen in Antigua: morgens Sprachkurs, nachmittags Leben in der Großfamilie und nebenbei die Stadt erkunden.

Neben den Tischen wachsen Bananenstauden. Im Hintergrund schießt der Vulkan Fuego Schwefelasche in den Himmel, und irgendwo brettert ein Bus über das Kopfsteinpflaster. Es ist Schulstunde in Guatemala.

Zwei Wochen lernen wir in der Stadt Antigua Spanisch. Wir, das sind Sally, 29, und Julien, 28, seit acht Monaten auf Weltreise und völlige Anfänger in der Sprache des gerollten Rs und der wild gestikulierenden Hände.

Spanisch lernen Guatemala
Spanisch lernen Guatemala © Sally Meukow | Sally Meukow

Antigua war einst die Hauptstadt des kolonialen Mittelamerikas, mit 50 Kirchen und Klöstern, einer Universität und damals 50.000 Einwohnern – rund ein Drittel mehr als heute. Im Jahre 1773 zerstörte ein Erdbeben die Siedlung fast komplett. Die Hauptstadt wurde in einer Ebene rund 45 Kilometer weiter östlich wieder aufgebaut. Es entstand das heutige Guatemala-Stadt mit dem Ruf eines kriminellen Molochs voller No-go-Areas und Drogen-Banden. Sie ist die hässliche große Schwester Antiguas. Seit 1979 gehört jene schöne Kolonialstadt zum Unesco-Weltkulturerbe. Die Straßen sind aus Kopfsteinpflaster, ehrfurchtgebietend ragen die Ruinen der barocken Kathe­dralen in den Himmel, die bunt bemalten, einstöckigen Häuser machen aus der Stadt eine perfekte Filmkulisse.

Von acht bis zwölf Uhr ist Unterrichtszeit im Garten der Sprachschule. Unsere hart-aber-herzlich-Lehrerin Aurora gibt uns Einzelunterricht. Um uns herum sitzen Besucher aus aller Welt mit ihren Maestras. Ab und an weht ein leises Gebrabbel zu uns an den Tisch. Auch wir versuchen uns in einfachen Dialogen wie zuletzt in der fünften Klasse im Englischunterricht. Schon nach wenigen Tagen können wir die Guatemalteken etwas verstehen. Wir bestellen auf Spanisch einen exzellenten Kaffee in einem der unzähligen Lokale der Stadt und genießen, dass wir auf der Straße nicht mehr nur mit einem Schulterzucken antworten können, wenn uns jemand anspricht.

Eingebettet zwischen den Vulkanen Acatenango, Agua und dem immer noch aktiven Fuego ziehen sich die Straßen wie auf einem Schachbrett hin. Den besten Ausblick gibt es vom Cerro de la Cruz, übersetzt dem „Hügel mit dem Kreuz“, den 45 Minuten und Hunderte unebene Stufen vom Stadtzen­trum trennen.

Es gibt rund 60 Sprachschulen in der 35.000-Einwohner-Stadt

Die Sprachschule bietet nachmittags Aktivitäten an, um die Umgebung zu entdecken und die Sprachfetzen mit Kulturfakten zu verbinden. Für die Anfänger wird aber alles Unklare auch ins Englische übersetzt. Spaziergänge zum Cerro de la Cruz gehören genauso dazu wie Stadttouren und Ausflüge in die kleinen Dörfer mit Kaffeeplantagen und Schokoladen-Manufakturen. Die Kakaobohnen in der Hand zu halten, die Kaffeebohnen in der Sonne trocknen zu sehen, ist wie im Speckgürtel Hamburgs auf einem Bio-Bauernhof zu erleben, woher das Kotelett kommt, das abends auf dem Teller landet. Rund 60 Sprachschulen gibt es in der 35.000-Einwohner-Stadt. Der Grund: Das guatemaltekische Spanisch gilt als rein und ist einfach zu verstehen, die Einheimischen verschlucken keine Konsonanten wie in Nicaragua und reden nicht so schnell wie in Kolumbien. Außerdem kostet der Privatunterricht mit Vollversorgung nur rund 25 Euro am Tag. Und die meisten Sprachschulen bieten ein Homestay an, das Wohnen bei einer Gastfamilie. Wir leben mitten in der Innenstadt, zur Sprachschule sind es drei Minuten zu Fuß. Eine große Holztür führt direkt vom engen Bürgersteig ins Wohnzimmer. Hinten hat die Familie drei Zimmer für Sprachschüler eingerichtet. Keiner in der Familie spricht Englisch, hier lernen wir schnell, mit der neuen Sprache umzugehen.

Als Mitglied einer Familie auf Zeit ist das Eintauchen in die fremde Kultur völlig selbstverständlich. Wie Kinder laufen wir im Alltag mit, verstehen viel mehr als nur die Sprache. Die Guatemalteker sind stolze Menschen, stolz auf ihre Kultur, auf ihre Traditionen, auf ihre Religion. Und sie sind gelassen. Als wir panisch auf die Straße laufen, weil die Asche des Fuego-Vulkans wie Schnee vom Himmel fällt, winkt unsere Gastmutter nur lachend ab. Wir sollen unsere Münder schützen, wenn wir ausgerechnet jetzt spazieren gehen wollen. Sonst sei alles gut. Dabei ist es die größte Eruption seit 1999, der internationale Flughafen wird gesperrt, Häuser in unmittelbarer Umgebung des Vulkans werden evakuiert. Unsere Gastmutter fegt derweil den Asche-Staub vom Hof.

Unter einem Dach leben drei Generationen mit klaren Aufgaben. Opa Francesco bringt morgens den schüchternen Enkel José-Rodrigo in die Vorschule und holt auf dem Rückweg frisches Brot für die Sprachschüler. Oma Marlis steht am Herd. Die 71-jährige kocht das Frühstück, Eier, Früchte, die traditionelle Frijoles: eine schwarze Bohnenpaste, die zwei Stunden mit Zwiebeln und Knoblauch eingekocht wird. Der 71-jährige Opa Francesco, der weder sein weißes Unterhemd noch sein gütiges Lächeln jemals abzulegen scheint, füllt die Wissenslücken seiner Gäste mit so viel Hingabe wie beim Abendessen seine Tortillas: „In Mexiko sind die Bohnen rot, unsere sind schwarz.“ Francescos Augen ruhen immer auf dem, der gerade das Tischgebet von den vorgegebenen Karten vorliest. Er sagt: „So danken wir Gott jeden Tag – und unsere Gäste lernen Spanisch!“ Für die Sprachschüler hat die Großfamilie drei 10-Quadratmeter-Zimmer hinter dem Innenhof geräumt. Auf grauem Grund stehen unzählige Töpfe mit Blumen. Die Schüler teilen sich das eine Bad, die Großfamilie das andere. Weit gereist sind Marlis und Francesco noch nie, zumindest nicht in exotisch ferne Länder wie Israel, Japan oder Indien – die Länder ihrer Besucher. 365 Tage im Jahr haben sie Fremde im Haus.

Wohlwollend nickt er bei jedem noch so falsch ausgesprochenem Wort. „Amen.“ Die Guatemalteken glauben, sind katholisch, da ist unsere Gastfamilie keine Ausnahme. Überall hängen Kreuze. „Grazias a dios“, Dank an Gott gehört in jeden zweiten Satz. Im Wohnzimmer steht eine überdimensionale Krippe mit Neonbeleuchtung und Weihnachtsmusik klimpert aus Mini-Lautsprechern. Francescos ganzer Stolz.

Aber an erster Stelle steht seine Enkeltochter Talita, die mit ihrer Mutter Ana und ihrem Vater Carlos in einem Zimmer neben der Küche schläft.

„Wir bereisen nicht die Welt, die Welt kommt zu uns.“ So sieht das Francesco. Probleme hatten sie noch nie mit den Dauergästen. Nur einmal sei es schwierig gewesen mit einem vegetarischen Inder, erzählt Marlis. Ihr warmes Lachen erfüllt den Raum. Sie ist eine grandiose Köchin, überrascht uns immer wieder mit ausgefallenen Fleischkreationen, uns unbekannten Gemüsesorten und Suppen.Dem Inder war das Essen zu eintönig, der habe sich bei der Sprachschule beschwert. Marlis zuckt mit den Schultern, streicht die Schürze glatt und lächelt.

„Queres más?“, „wollt ihr mehr?“, fragt sie und füllt die Teller nach. Mit uns zu Gast sind ein Engländer und ein Franzose. Auch unter den Gästen ist am Tisch Spanisch Amtssprache. Die sechsjährige Talita ist oft der Eisbrecher, quatscht einfach drauflos. Am ersten Tag zeigt sie uns stolz ihren neuen Prinzessinnen-Rucksack, hüpft in ihrer Schuluniform durch die Küche und bittet ihre Oma um einen Teller Nachos.

Auf jeden neuen Gast stellt sich die Familie ein, fragt nach den Sitten in dessen Heimatland und schwärmt für ihre eigene Heimat: Antigua. Oder sie schwärmen von Besuchern, die Ihnen ans Herz gewachsen sind. Erinnerungsfotos hängen neben dem Kühlschrank. Eine Sprachschülerin aus der Schweiz lebte hier für fünf Monate.

Wie viele Familienmitglieder auf Zeit sie aufgenommen haben, wissen Francesco und Marlis nicht. Seit sechs Jahren verdienen sie so ihr Geld. Viel ist es nicht. Laut Sprachschule gibt es acht Dollar pro Gast pro Tag – für Komplettverpflegung und Übernachtung. Vor der Rente hat Francesco 30 Jahre in einer großen Fabrik für Fertiggerichte gearbeitet, hat Hühnchen für Tütensuppen zerlegt. Seither hat er Guatemalas Lieblingsfleisch satt. Er wischt mit einem Tortilla die letzte Bohnencreme vom Teller und grinst. „Seit 42 Jahren sind wir verheiratet, und seitdem arbeite ich eh für sie“, sagt er, stellt seinen Teller brav in der Spüle ab und nickt in Marlis Richtung.

Es muss anstrengend sein, immer Leute zuhause zu haben, immer wieder erklären zu müssen, wie das mit den Bohnen ist und wieso die Krippe noch so lange nach Weihnachten im Wohnzimmer steht. Und ist es nicht befremdlich, jeden privaten Moment mit Fremden zu teilen? So wie an diesem Freitag: Die kleine Talita wird sieben Jahre alt. Zu jedem Kindergeburtstag gehört eine kleine Pappmaschee-Puppe – so viel wissen wir. Wir kaufen eine solche Piñata, füllen sie mit Marshmellows, auch wenn traditionell Früchte in die Festtagspuppe gehören. Ziel ist es, sie mit einem Stock zu zerschlagen. Die herabfallenden Süßigkeiten symbolisieren den Segen. Der Stock, der zum Schlagen benutzt wird, steht für die Kraft, die Gott gibt, um das Böse zu bekämpfen. Früher wurden die Puppen mit verbundenen Augen geschlagen, was Sinnbild für den Glauben an Gott ist. Was für eine Freude wir dem Geburtstagskind mit der Piñata gemacht haben, ahnen wir noch nicht. Die ganze Familie steht im Kreis und feuert das Mädchen an, auf die Puppe einzuschlagen. Talita quietscht vor Vergnügen, springt in die Höhe, um die Puppe zu erwischen. Dann reicht sie den Krepp-Knüppel herum, und jeder darf der Puppe eins mitgeben. Während wir vorsichtig daneben schlagen, um bloß die Süßigkeiten nicht herauszuhauen, greift unsere sonst so zurückhaltende Gast-Mutter beherzt zu. Mit voller Wucht haut sie auf die Puppe, alle lachen. Als das Geburtstagskind dran ist, ist die Piñata schon ziemlich eingedellt. Nur noch wenige Schläge, und sie platzt. Das kleine Mädchen steht im Süßigkeitenregen und breitet die Arme aus. Ein Bild, das bleibt.

Ein Glücksmoment, der immer verbunden sein wird mit dieser schönen Sprache. Und der Stadt Antigua, die es einem so einfach macht, Lateinamerika zu lieben. Mehr von den beiden Weltenbummlern gibt es auf ihrer Homepage unter www.ersieweltreise.de

Den ganzen Tag läuft das Mädchen mit der Puppe im Arm herum und redet aufgeregt auf sie und uns ein. Als abends ihr Vater von der Arbeit kommt, hängt er die Puppe an einem Seil an der Wäscheleine im Hof auf. Das Geburstagskind bekommt einen Teppichklopfer umwickelt mit buntem Krepppapier in die Hand. Und los geht es.