Ein Jahr nach der atomaren Katastrophe in Fukushima hat Tokio zur Normalität zurückgefunden. Auch die Touristenzahlen steigen wieder.

Eine Ausstellung im Marunouchi-Building zeigt Fotografien von Fukushima: Saftig grüne Wiesen mit leuchtenden Butterblumen, zart rosa blühende Kirschbaumfelder vor lieblich geformter Hügellandschaft, Shinto-Tempel mit roten Laternen - Japan wie aus dem Bilderbuch. Daneben hängt eine Karte der Unglücks-Präfektur, die etwa so groß wie Schleswig-Holstein und rund 250 Kilometer von Tokio entfernt ist. Eingezeichnet ist auch die Sicherheitszone, 20 Kilometer um das im März 2011 havarierte Atomkraftwerk herum. "So schön ist Fukushima", schwärmt Kaori Matsushima. Die 32-Jährige arbeitet für eine Immobilienfirma, die Tokios Geschäftsviertel Marunouchi mit Kunst, Kommerz und Kulinarik beleben möchte. Diese Ausstellung war ihre Idee. "Die Welt soll wissen, dass Fukushima außerhalb des überschaubaren Gebietes um das Kernkraftwerk völlig ungefährlich ist", sagt die Japanerin, die zum Sprechen ihren Mundschutz unter das Kinn schiebt. Die Galerie-Besucher aus Europa, Amerika und Australien gucken die hübsche Frau mit großen Augen an. So als würden sie fragen wollen, wie das sein kann, nach nur einem Jahr. Doch es herrscht betretene Stille im Raum, zu groß ist das Mitgefühl.

Vor dem 200 Meter hohen Marunouchi-Building, das auf dem mit 21 Millionen Yen pro Quadratmeter teuersten Stück Land in ganz Japan steht, herrscht hingegen der alltägliche Wahnsinn der Zwölf-Millionen-Metropole. Heerscharen von erschöpften "Arbeitsameisen" in schwarzen Anzügen und mit schwarzen Aktentaschen hasten durch Hochhausschluchten und nutzen jede freie Minute für ein kurzes Nickerchen: auf der Parkbank, im Restaurant - und in der U-Bahn sowieso. Frauen, deren Schönheitsideal darin besteht, so lange wie möglich wie eine Zwölfjährige auszusehen, laufen in kleinen Gruppen von Shoppingtempel zu Shoppingtempel. Jugendliche mit bizarren Frisuren und skurrilen Outfits ziehen rastlos durch die Mega-City und versammeln sich abends in den schrillen Ausgehvierteln: Shinjuki ni-chome, Kabukicho und Shibuya.

Tokio scheint tatsächlich zur Normalität zurückgekehrt zu sein. Die Stadt, in deren Hinterzimmern noch vor ein paar Monaten an Evakuierungsplänen gearbeitet wurde, verzeichnet heute weniger Strahlung als Berlin und New York (der TÜV Rheinland beliefert die Deutsche Botschaft täglich mit selbst gemessenen Werten). Noch im vergangenen Sommer schalteten die großen Unternehmen ihre Klimaanlagen ab, die Beleuchtung wurde drastisch heruntergefahren und zahlreiche U-Bahn- und Zugverbindungen eingestellt. Um Strom zu sparen, verzichteten die Japaner sogar auf ihre geliebten Hightech-Toiletten mit vorgewärmten Sitzen und einem sich wie von Geisterhand öffnenden Klodeckel.

Heute blinkt Tokio wieder wie eh und je - und das, obwohl nur drei von 54 Kernkraftwerken am Netz sind. Besonders bunt illuminiert ist der Stadtteil Akihabara, auch Elektronic City genannt. Auf der Straße Chuo-Dori konzentriert sich das Output japanischer Technikindustrie. Doch viele Menschen kommen nicht hierher, weil es kaum einen Pappbecher gibt, der nicht spricht oder zumindest die Farbe wechselt, sondern hauptsächlich wegen der sogenannten Maid-Cafés. Mädchen, meist in Schuluniform oder als Dienstmagd verkleidet, locken schon auf dem Bürgersteig Leute an.

In den Maid-Cafés werden die Gäste nach Strich und Faden verhätschelt. Die Zeremonie folgt einer Art Rollenspiel, bei dem der Kunde der Herr und die Kellnerin eine kindliche Dienerin ist. Dem Gast wird zum Beispiel auf Knien der Kaffee umgerührt und gegebenenfalls auch der Milchschaum vom Mund getupft. Dabei machen die "Girlies" mit übertrieben piepsiger Stimme ebenso übertriebene Komplimente, und zwar ständig. Zum Abschluss gibt es noch ein gemeinsames Polaroid-Foto, wobei die Bedienung eine unterwürfige Pose einnimmt. Weibliche Gäste sind übrigens auch willkommen und werden ebenso behandelt. Die Vorliebe der Japaner, sich von Fantasiewesen umsorgen zu lassen, wächst stetig und erschließt sich wohl kaum einem Europäer. Gerade deswegen ist ein Besuch in einem dieser Lokale ein authentisches Erlebnis.

Dass für die Einwohner Tokios Fukushima so weit weg ist wie für uns, zeigt sich auch auf dem Fischmarkt Tsukiji, dem größten der Welt. Jeden Tag wechseln hier mehr als 2000 Tonnen Fisch und Meeresfrüchte von über 400 verschiedenen Arten ihren Besitzer und werden an den Hunderten kleinen, spezialisierten Ständen zum Verkauf angeboten. Gegen 5.30 Uhr beginnt die legendäre Thunfischversteigerung. Für die rund 250 Kilogramm schweren Tiere werden bis zu 180 000 Euro gezahlt. "Die ersten Wochen nach der Katastrophe war es deutlich ruhiger, doch jetzt ist alles wie immer", erzählt Oliver Weber und ergänzt: "Japaner sind Feinschmecker, Fisch ist die Grundlage ihrer zu Recht hoch gelobten Küche."

Der Deutsch-Amerikaner ist Küchenchef im Hotel Shangri-La, der neuesten Tokioer Luxusherberge, und sucht regelmäßig selbst nach ausgefallenen Delikatessen. Dabei achtet er peinlich genau darauf, in welchem Gewässer die Meeresbewohner gestern noch geschwommen sind. Die Gäste in den vielen Sushi Bars rund um den Markt scheint das nicht zu interessieren, es ist kaum ein Tisch frei. Wie in Japan üblich, sind die einzelnen Speisen aus Kunststoff originalgetreu nachgebildet und im Schaufenster ausgestellt. Das lockt auch ausländische Touristen in die Bistros mit dem wohl frischesten Sushi der Welt.